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Der Löwe hatte inzwischen den Kopf niedergelegt, ganz so, als wäre die Gefahr vorüber, daß er hätte Thema werden können.

Um dem jähen Wechsel im Tonfall die Schärfe zu nehmen, fragte Blumenberg betont freundlich nach der Arbeit des Redakteurs. An den humoristischen Auskünften, wie viele Stapel unnützer Bücher auf seinem Tisch lägen und wie viele Kollegen ständig in sein Büro stürzten, um ihn mit läppischen Fragen zu belästigen, merkte Blumenberg, daß der Redakteur ihm nicht böse war.

Sie verabschiedeten sich. Sein von drei Lampen erleuchtetes Arbeitszimmer inmitten der Nacht hatte ihn wieder.

Das Telephonat hatte eine düstere Leere in ihm hinterlassen. Er fühlte sich wie ein ausgeblasenes Ei. Für den Moment wußte er nicht, was er tun sollte. Sein Produktionseifer, der enorme Fleiß, der ihn immer ausgezeichnet hatte, all das war ein Kampf gegen die Leere. Ein Kampf, der nicht zu gewinnen war, wie er im geheimen wußte, ein Abwehrzauber, ähnlich dem Singen von Kindern im finsteren Walde.

Ihm kamen die eigenen Kinder wieder in den Sinn, das Licht, das er manchmal in der Nacht in ihren Zimmern angeknipst hatte. Vor Jahrzehnten, als alle noch klein waren, war er mit seinen Fledermausohren zuständig gewesen für Schmerzen, von denen die Kinder in ihren Betten manchmal angefallen wurden. Die Verzweiflung der Kinder, die keinen Schlaf fanden und litten oder von Alpträumen heimgesucht worden waren, konnte er immer noch spüren. In dieser frühen Zeit war es ihm gelungen, den Tröster zu spielen. Jetzt tröstete der Löwe ihn, aber der Schweigepakt, der ihm dafür auferlegt worden war, ließ sich nur schwer einhalten. Außerdem schien der Löwe allmählich etwas von seiner tröstenden Kraft einzubüßen. Weshalb war er heute nicht in der Vorlesung erschienen? Ein Warnzeichen! Blumenberg ärgerte sich, daß er von seinem Löwen bereits dermaßen abhängig war, daß dessen Wegbleiben ihn aus der Fassung bringen konnte.

Nein, über Gut und Böse würde er nichts veröffentlichen, schon gar nicht mit direktem Bezug auf den Nationalsozialismus. Er hatte sich auch zurückgehalten, als Hannah Arendt mit ihrer These von der Banalität des Bösen an die Öffentlichkeit getreten war. So scharfe Worte, wie er heute dafür fände, hätte er 1963 vielleicht nicht gefunden, obwohl das Buch damals schon seinen Unmut erregt hatte. In einigen Punkten mochte sie zwar recht haben mit ihrer These, aber dies am Fall Eichmann zu demonstrieren, zum neuralgischen Zeitpunkt seines Prozesses in Israel, da die Staatsgründung, zu der Leute wie Eichmann ja indirekt beigetragen hatten, noch nicht lange her war und Eichmann die einzige Zielperson, der einzig greifbare Schuldige war, dessen sich die Juden hatten versichern können, und nun ausgerechnet diesen Mann im Banalen des Bösen zu verharmlosen war ein Fehler, ja, mehr als das, es war verwerflich. Sechs Millionen Tote waren in den neuen Staat eingezogen. Nicht ob man etwas böse nennen durfte, war das Problem, sondern wann und wie. Sie hatte kein Verständnis für die Kraft des Symbolischen. Vor allem störten ihn der schnoddrige Ton und ihr Ehrgeiz, sich mit einer möglichst steilen These hervorzutun.

Problematisch war auch der Zeitpunkt gewesen, zu dem Sigmund Freud den Mann Moses veröffentlicht hatte. Freuds Darstellung des Moses als Ägypter erschien ausgerechnet in einem Jahr höchster Bedrängnis. Den Juden, denen kaum etwas anderes geblieben war, als sich an ihre Geschichte zu klammern, wurde auch noch ihr größter Überlebensvater, der Geschichtsheld des Exodus, genommen und den Ägyptern zugeschlagen. Gewiß, Freud war nicht auf Zerstörung aus gewesen, er hatte den Juden eher etwas von der Bürde ihrer Besonderheit nehmen wollen, um damit den Haß zu mindern, der sie in Europa umbrandete. Aber gerade das war falsch. Eine Wahrheit, die einige Jahrzehnte früher oder einige Jahrzehnte später befreiend hätte wirken können, war zu einem solchen Zeitpunkt unangemessen.

Ein schwerwiegender Irrtum, zu glauben, die Wahrheit mache frei, gleichgültig wann, gleichgültig wo, gleichgültig von wem geäußert. Alles kam auf den Zeitpunkt an, wann eine Wahrheit überhaupt vertragen werden konnte und wann nicht; wurde sie zum falschen Zeitpunkt, am falschen Ort an die Öffentlichkeit gebracht, sorgte sie nur für Verwirrung und trotzige Abwehr. Die Wahrheit erfüllte sich in der Zeit; auf langen Um- und Abwegen kam sie allmählich zum Vorschein. Die Bundesrepublik war ein Paradebeispiel dafür. Vieles von dem, was erst nach und nach ans Licht kommen konnte und noch immer Verstörungen hervorrief, hätte gleich nach dem Krieg nur bewirkt, daß die notdürftig erhaltenen Lebensgerüste massenhaft zusammengebrochen wären. Das Vergessen war notwendig. Ohne die heilsame Wirkung des Vergessens hätte sich der neue Staat gar nicht zivilisieren können.

Überhaupt: Wahrheit. Durfte der Wahrheitssucher darauf vertrauen, daß sich ihm das Seiende einfach so öffnete? Oder war da Gewalttat im Spiel, Überlistung, Abpressung, hochnotpeinliches Verhör des Gegenstandes? War das Wahrheitsvermögen des Menschen an die Ökonomie seiner Bedürfnisse gekettet oder durch seine Begabung zum Glück inspiriert, seine Begabung, den Überfluß zu ersehnen nach der Idee einer visio beatifica?

Vielleicht war es sogar die Einsicht, niemals im Besitz der Wahrheit zu sein, die frei machte und ihr gerade dadurch am nächsten kam, ganz im Gegensatz zur Verheißung, der Wahrheitsbesitz mache frei.

Blumenberg war jetzt richtig aufgepulvert, nahm sein Glas von einem Typoskript und schenkte sich neu ein. Er wollte das Thema verscheuchen, aber es drängte wieder heran. Die Verbrechen der Wehrmacht. Ein schlagendes Beispiel. Soweit die Verbrechen von einfachen Soldaten und mittleren Rängen verübt worden waren und nicht nur die wenigen Generäle betrafen, die man in Nürnberg abgeurteilt hatte, konnte von ihnen bis heute nur schwer öffentlich gesprochen werden. Dazu mußten viele Angehörige einer Generation weggestorben oder die wenigen, die noch am Leben waren, zu altersmürb und einflußlos geworden sein, um der Gesellschaft noch schaden zu können.

In seinem aufgekratzten Zustand war an normale Arbeit nicht mehr zu denken. Jäh stand er auf und umkurvte den Löwen mitsamt Glas in einem Bogen, fast wäre er gestolpert und hätte das Gleichgewicht verloren; der Löwe aber blieb ungerührt liegen, als wisse er genau, daß kein Fall zu befürchten war.

Blumenberg ging hinüber ins Musikzimmer, um sich über einer Einspielung der Goldberg-Variationen zu beruhigen.

Die Musik, die ja ursprünglich für einen Schlaflosen komponiert worden war, der sich zu seiner Aufheiterung ein Stück sanften und munteren Charakters gewünscht hatte, beruhigte und entspannte ihn tatsächlich. Gut, böse, böse, gut, das lästige Thema geriet allmählich in den Hintergrund; er fühlte, wie die Gouldschen Finger in präziser Hast auf seinen gesamten Körper einhämmerten, und so annehmlich weichgeklopft, wie er nun allmählich wurde, nahmen andere Gedanken von ihm Besitz.

Er dachte an eine Mappe, eine ganz besondere schwarzgeriffelte Mappe mit der Aufschrift Was ist das Allerletzte?. Darin verwahrte er seine Sterbeskizzen. Eher in leichtem, gewitztem Ton, nicht mit Schwere zu Papier gebracht, enthielt die Mappe seine Phantasien über die Art, wie Menschen starben. Menschen, die er persönlich kannte, und Figuren, die ihm aus dem öffentlichen Leben geläufig waren, eine Spekulation über ihre letzte Stunde, die zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht eingetreten war. Das Wann und Wie, die Hoffnungen, die sie hegen mochten, Gebrechen, die sie plagten, Erleichterung, die sich einstellte, Turbulenzen, mit denen sie es zu tun bekamen, Erwartungen, die nicht erfüllt oder so umfassend erfüllt wurden, daß Schrecken daraus erwuchs. Einen sympathischen jungen Fant etwa, der bei ihm studiert hatte, sah er als Uralten, über Hundertjährigen, vor Adonai hintreten, der ihm die Antwort auf die Frage nach seiner Existenz ins Ohr tuschelte, damit die Engel nicht eifersüchtig würden. Angesichts der vielen, vielen Ewigkeitsadepten um ihn her hatte der Mann bloß einen Wunsch: Bitte lösche meine Existenz aus. Das sah auf den ersten Blick gewichtiger aus, als es gemeint war. Der Ton hatte etwas von einem sprudelnden Aspirinwässerchen.