Seit Jahren schon sammelte er solche Mutmaßungen und hatte seine geheime morbide Lust daran. Vielleicht würde er später wieder ins Arbeitszimmer überwechseln und eine Skizze darüber anlegen, wie der Redakteur, dieser schlaue Erzskeptiker, starb.
Weiteres Zwischenstück, in dem der Erzähler die Zeit um ein Jahr voranschiebt
Anders als versprochen, meldet sich der Erzähler noch einmal zu Wort. Wir sind wieder im Mai, aber nicht im Mai 1982, sondern im Mai 1983. Was sich dazwischen alles zutrug in der Welt? Gewiß abermillionenmal mehr, als ein Erzähler, und sei er noch so gewissenhaft, zu Papier bringen könnte (und sollte). Halten wir fest, daß Helmut Schmidt die Regierungsgeschäfte an Helmut Kohl abtreten mußte. Die Argentinier, die sich mit blumigen Nationalworten in den Krieg gestürzt hatten, holten sich auf den Falkland-Inseln eine blutige Nase. Die eiserne Lady konnte den Sieg für sich verbuchen und blieb an der Macht. Der amerikanische Präsident hieß Ronald Reagan. Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, wurde in Bolivien festgenommen. Der Stern veröffentlichte die gefälschten Tagebücher Adolf Hitlers. Um Vivi Bach und Dietmar Schönherr wurde es stiller. Es starben Ingrid Bergman, Glenn Gould und Walter Spahrbier, der lächelnde, hornbebrillte Glücksbote aus dem westdeutschen Fernsehen, der immer mit hoch aufragender schwarzer Schirmmütze aufgetreten war, vorneauf ein glänzendes Posthornabzeichen.
Gerhard fühlte sich einsam. Nicht nur seine Freundin hatte er verloren, auch Richard war ihm abhanden gekommen, der ewig verdrossene, aber hin und wieder hoch amüsante Richard, der sich in der Ferne allmählich in einen anderen Menschen zu verwandeln schien. Seine Briefe, die in immer größeren Abständen aus Argentinien, Chile, Bolivien, Peru in Münster anlangten, zeugten mehr und mehr von einer selbstvergessenen Beobachtungsgabe, die Gerhard gar nicht an ihm kannte. Offenbar war das fremde Leben so auf den Freund eingestürmt, daß keine Luft blieb für seine üblichen Nörgeleien und Besserwissereien. Gerhard vermißte ihn sehr, insbesondere war er neugierig auf den verwandelten Richard, der womöglich weniger schläfrig, weniger trunksüchtig und weniger auf seine uralten Geschichten fixiert war. Ob Richard seinen Eltern nach Paderborn auch so gewitzte Briefe schrieb? In Hansi fand Gerhard keinen Ersatz, Hansi blieb der Immerselbe, unzugänglich, abweisend, aufdringlich wie gehabt mit seinem Rezitiertic. Zu weiteren Annäherungen kam es nicht, man grüßte einander mit einem Kopfnicken aus der Ferne, dabei blieb’s.
Und Blumenberg?
Blumenberg war dem Phänomen Löwe während des ganzen Jahres keinen Deut nähergekommen. Oberflächlich betrachtet. Wenn doch, so ist jedenfalls kein Hauch der innersten Geheimnisse, die Blumenberg und den Löwen durchwitterten, ans Ohr des Erzählers gedrungen. Ein Erzähler sieht zunächst nicht, er hört und verwandelt das Gehörte in Bilder, oder er hört mit den Augen — To hear with eyes belongs to love’s fine wit, wie es in einem Shakespeare-Sonett so treffend heißt. Einmal wollte der Erzähler dem Gekruschtel im Arbeitszimmer und den zur Decke steigenden Gedanken entnommen haben — es war aber nur eine Vermutung, mehr nicht —, daß Blumenberg eine geheime Mappe anlegte, in der er verwahrte, was er über seinen Löwen zu Papier brachte, Wunderkeimendes, flüchtig, sehr flüchtig hingekritzelt, nicht wie sonst üblich maschinengeschrieben oder in seiner gut leserlichen, im Runden sich einwohnenden Schrift. Alles über ihn und den Löwen. Die Mappe wurde versteckt, es gab offensichtlich nicht die richtigen Hände dafür, in die sie hätte gelangen dürfen. Und das Ohr des Erzählers war nicht fein genug, um zu erraten, wo sich die Mappe befand, nicht fein genug für das Hörensagen, Sagenlauschen, für das Hören höret nimmer auf, und so konnte sich sein Auge nicht scharfstellen, um das Inliegende zu erkennen.
Blumenberg sammelte allerdings auch Löwennotizen in herkömmlicher Form, die er nicht verstecken mußte, allmählich schwollen die diesbezüglichen Karteikarten zu einem größeren Stapel an. In den Vorlesungen war der Löwe kaum aufgetaucht, dafür lag er wie eh und je nachts im Arbeitszimmer auf dem angestammten Teppich. Unweigerlich hatte sich Gewöhnung breitgemacht; es kam vor, daß Blumenberg seinen Löwen während der Nacht einfach vergaß. Alles blieb beim alten. Eine handgreifliche Annäherung hatte Blumenberg nicht riskiert. Wenn auch nicht mehr so stark wie am Anfang, strömte aus dem Löwen noch immer Kraft und Zuversicht, sie strömte beständig und hatte zur Folge, daß Blumenberg sogar besser und erholsamer schlief, wenn er schlief, und auf Schlafmittel, die immer sein letzter Ausweg gewesen waren, um überhaupt zu schlafen, verzichten konnte.
Richard
Der Mai dieses Jahres war nicht besonders regenreich. Nur einmal am Tag wurde er von lauwarmem Regen durchnäßt und von lauwarmen Brisen trockengefächelt. Richard war seit Monaten schon auf dem südlichen Teil des amerikanischen Kontinents unterwegs. Opulente Romane, in denen das Leben aus jeder Seite nur so herausquoll, worin Levitationen so selbstverständlich waren wie das niedere Treiben auf der Erde, hatten ihn hierher gelockt, wohl auch die letzten Wallungen des Revolutionsfiebers, das ihn, den in Paderborn geborenen Sohn eines höheren Postbeamten im Verwaltungsdienst, einst auf dem Gymnasium gepackt hatte, vor allem aber das Mißtrauen, welches er seinem verbrecherischen Heimatland gegenüber hegte — ein böses, fort und fort schwelendes Mißtrauen, an dessen Rändern die Paranoia flackerte.
Er war gescheitert, und zwar gründlich, aber das Versagen hatte seinen Körper und sein Denken nicht mehr in der Gewalt. Monatelang hatte Richard mehr dahinvegetiert denn gelebt mit nichts als seinem Scheitern im Kopf. Nach außen hin hatte er sich abgebrüht gegeben, war in den Vorlesungen eingeschlafen, hatte in den Kneipen die Frauen abgeschleppt als ein verrucht alkoholisiertes Subjekt, das vielleicht nur im Bett zu retten war. Sogar seinem Freund Gerhard gegenüber hatte er den Überlegenen gespielt, ausgerechnet vor Gerhard, der guten alten Haut, hatte er dieses Theater aufführen müssen. Von wegen, er, Richard, habe alles schon erlebt, was es zu erleben gab! In Wirklichkeit hatte ihn sein Versagen gelähmt, und er hatte überhaupt nicht gelebt, und auf Gerhard, den er immer bespöttelt und ein bißchen heruntergeputzt hatte, war er insgeheim neidisch gewesen.
Ich bin ein totaler Versager, sagte sich Richard, oder vielmehr, er sagte es ganz leise in den Fahrtwind, und der Fahrtwind trug es zu den Vögeln, die gerade über ihm den Strom kreuzten, und er amüsierte sich dabei, denn sein Versagen wog inzwischen leichter als eine Feder. Er lag in einer Hängematte, seit Tagen, nein, seit Wochen schon, er hatte keinerlei Überblick mehr über die dahineilende Herde der Tage. Die Hängematte befand sich am Bug eines kleinen brasilianischen Frachters, der den ganzen ewiglangen Amazonas entlangfuhr.
Seinem Professor in Münster — Münster, dieses Nest, war in Richards Vorstellung inzwischen zu einem Spielzeugstädtchen geschrumpft, in das ein Vierjähriger hineinlangen konnte, um mit seinem Auto brummbrumm zu machen —, seinem Professor hatte er niemals imponieren können, mit nichts, rein gar nichts. Die Szenen, die das bewiesen, sah Richard jetzt in präzis ausgeleuchteter Schärfe vor sich. Er sah sich selbst als bleichen Wurm, der hinter dem Professor herkroch: ein schiefes Bild, der Professor war immer zu schnell fortgeeilt, nach Hause, in sein eigenes Reich, als daß Richard oder sonstwer hätte hinter ihm herkriechen können. Trotzdem entsprach die Wurmhaftigkeit Richards der Wahrheit, und manchmal hob dieser Wurm, der Richard lange Zeit gewesen war, flehentlich das Köpfchen, bitte bitte, Herr Blumenberg, wollen der Professor mich doch bitte bemerken. Richard lachte auf, als er sich seine komisch fruchtlosen Bemühungen ins Gedächtnis rief, ein bedeutendes Zeichen seiner selbst vor die unerbittlichen Augen des Professors zu pflanzen.