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Die Monate, die er bisher in Südamerika verbracht hatte, in Argentinien und Chile, hatten die Verachtung, die er für sein eigenes Land hegte, inzwischen gemildert. Daß es in der Bundesrepublik ruhig und bequem zuging, während sich Pinochet Jahre zuvor blutig an die Macht geputscht und nebenan General Videla als knochenharter Diktator regiert hatte, der Gegner von der Straße wegfangen, foltern und ins Meer werfen ließ, gab ihm zu denken. Mit dem Grauen, das aus diesen Diktaturen sickerte und das Alltagsleben vergiftete, war er in Berührung gekommen, sobald er Leute näher kennengelernt und von ihrer Angst erfahren hatte. Der moralische Rigorismus seiner eigenen Generation, die verbockte Kampflust gegenüber den Eltern, eine Haltung, die wenig davon wissen wollte, wie es sich im einzelnen unter dem Faschismus gelebt hatte, wurde ihm allmählich suspekt. Und er begann zu verstehen, weshalb dem Professor dieser Rigorismus auf die Nerven gehen mußte, obwohl er sich niemals direkt, allenfalls in Anspielungen, die nur verstand, wer verstehen wollte, dazu geäußert hatte.

Mitten auf dem Amazonas dahinzufahren, in einer Hängematte liegend, während der warme Fahrtwind über seinen Körper strich, in dieser besonderen Lage, in der sich sein Körper glücklich fühlte wie nie zuvor, war es Richard möglich, sich an alles, was ihn während der letzten Jahre gequält hatte, deutlich zu erinnern, aber sein ins Deutliche gehobenes Elend schmerzte nicht mehr, der lind wehende Wind trug es davon. Selbst Isa, die er aus Leibeskräften verachtet hatte, sah er nun in anderem Licht. Sie war auch eine Versagerin gewesen, und ihm darin erschreckend ähnlich.

Womit war er denn nun gescheitert? Mit seiner Dissertation. Zwei Jahre lang hatte er sie zwischen seinen Fingern gewälzt, wobei es ihm niemals gelungen war, über die Seite sechsundachtzig hinauszukommen. Sobald er daran dachte, war ihm weniger zum Lachen zumute, aber lächerlich war das Ganze trotzdem, geradezu albern, wie Richard sich eingestand, mordsalbern sogar, dieses fruchtlose Bebrüten jeder einzelnen Seite im Hinblick darauf, ob sie dem Professor würde gefallen können; aber nein, natürlich würde eine so miserabel komponierte und schlampig gedachte Seite dem Professor niemals gefallen, er würde sie vor lauter Ekel nicht einmal lesen wollen, so ungefähr hatte sich Richard damals den Professor beim Lesen oder vielmehr Nichtlesen einer Seite seiner Dissertation vorgestellt, und des Professors nach allen Möglichkeiten hin ausgemalter Ekel hatte verhindert, daß Richard die Seite siebenundachtzig hätte in Angriff nehmen können und von da aus weiter die Seiten achtundachtzig, neunundachtzig und so fort.

Gottlob, es war vorbei. Am Thema hatte es nicht gelegen. Oder doch? War das Thema zu groß gewesen für Richards Kopf? Zu subtil für seinen rohen Charakter? Hatten ihn vielleicht die intrikaten Beziehungen, die zwischen den Jüngern und ihrem Herrn und zwischen den Studenten und ihrem Professor walteten — Jünger wie Studenten als zu erleuchtende Wesenheit, als Fleisch, in das der Geist fahren mußte —, daran gehindert, das Thema einfach zwischen zwei Fäuste zu nehmen und loszulegen?

Schon dem Kinde Richard hatte das Ausgießen des Heiligen Geistes großen Eindruck gemacht, besonders die Flämmchen, die auf die Köpfe der Versammelten gesprungen waren. Als ihm die Großmutter auf seine Bitten hin die Geschichte wieder und wieder erzählte, hatte sich der kleine Richard immer oben an den wassergezogenen Scheitel gegriffen in Erwartung eines Flämmchens, das sich zu seiner Enttäuschung aber niemals dorthin hatte verirren wollen.

Die kindliche Entflammtheit, die für den erwachsenen Richard nicht so ohne weiteres, höchstens mit einem karikierenden Grinsen, wiederzugewinnen war, konnte ihm bei seiner Dissertation nicht viel nutzen. Es nützte auch nichts, daß der kleine Richard unter den zungenfertigen Parthern immer einen oder mehrere Panther sich vorgestellt hatte, was die Sache allerdings sehr aufregend machte, denn Richard hätte sich für sein Leben gern mit einem ausgewachsenen Panther unterhalten. Nein, Richard war gescheitert, weil es ihm nicht gelungen war, hintersinnige Blumenbergfragen an die biblischen Texte heranzutragen und für diese Fragen wie in einem hochklassigen Billardspiel über die Bande treffsichere Antworten aufs Papier zu hacken.

Einzig das Kapitel über das pfingstliche Wasservogelsingen der Ortschaft Ringelai im Bayerischen Wald war nach Richards Dafürhalten passabel, wenn nicht sogar gewitzt ausgefallen, vielleicht auch noch die Fußnote über einige mittelalterliche jüdische Gemeinden, in denen es Brauch gewesen war, die Kleinen zu Shavuot im Alter von etwa fünf Jahren auf das Lesepult der Synagoge zu stellen und sie dann in die Shul zu tragen, wo sie die ersten hebräischen Buchstaben lernten und mit Süßigkeiten gefüttert wurden, weil die Tora ja süß in sie hineingehen sollte — alles schön und gut, aber er hatte diese einzelnen Teilchen Blumenberg ja nicht getrennt von den anderen, zähen Teilen, die sich gedanklich nie vom Boden lösten, zur Durchsicht geben können. Zäh, ja, zäh war er zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hin- und hergekreuzt, hatte brav bei Moses begonnen, war über das Buch Ruth zu Joel, zur Apostelgeschichte, zu Johannes gelangt, hatte brav von den Reparaturleistungen gehandelt, die das Pfingstwunder an der Geschichte vom Turmbau zu Babel vornahm, aber so geistesöde wie ein Bibelingenieur, und nicht einmal ein guter, bis auf der vermaledeiten Seite sechsundachtzig die Quälerei zum Erliegen gekommen war.

Was hatte er sich abgerackert, um alles über die Meder, die Parther, die Elamiter, die Kyrener in Erfahrung zu bringen, die nach der wundersamen Fleischerleuchtung so munter mit den Ägyptern und Römern geplaudert hatten, in ihrer jeweils eigenen Sprache, doch von jedem anderen verstanden wie im Flug. Was aber Blumenberg seinen Studenten von Vorlesung zu Vorlesung lässig vorgeführt hatte, genau das war Richard versagt geblieben: auf etwas anderes hinzublicken, um zur Erkenntnis des einen anstelle von einem vagen Einerlei zu gelangen.

Dann hatte er von seiner Großmutter Geld geerbt und den Entschluß gefaßt, ein Jahr in Südamerika zu verbringen. Er hatte sich vorgenommen, den ganzen langen Amazonas per Schiff zu befahren, das heißt, zunächst nicht den Amazonas, sondern den Rio Ucayali, einen seiner Hauptzuflüsse. Und nun befand er sich endlich auf dem Amazonas.

Großmutters Geld war in Travellerschecks und Dollars verwandelt worden, die er in einer Spezialtasche aus Baumwollstoff mit Reißverschluß am Leib trug. Seine eigentliche Reisetasche hatte schon bessere Tage gekannt. Ihre rötlichen Gobelinstickereien waren inzwischen abgeschabt und grau, etliche Nähte geplatzt, die Henkel brüchig. Trotzdem war er stolz auf das Ding. Eine neugierige Schäferin beugte sich über einen schlafenden Hirten — auf der Vorderseite. Auf der Rückseite war die Schäferin selbst entschlafen. Die Tasche machte ihn glauben, er sei ein reisender Held aus einer glorreichen früheren Zeit und habe mit den Touristen, die sonst unterwegs waren, nicht das geringste zu tun.

Ein echtes Abenteuer war sie gewesen, seine Ankunft in der tropischen Welt. Spätabends war er auf dem kleinen Flughafen von Pucallpa gelandet, der den Namen eines peruanischen Capitán trug. Kaum betrat er das Treppchen, um die Propellermaschine zu verlassen, legte sich die feuchtschwüle Tropennacht wie ein erstickendes Tuch um seinen Körper. Die ersten Atemzüge waren ungewohnt dick und warm. Millionen von Insekten umschwirrten die Scheinwerfer, die an Gerüsten auf dem Dach der Empfangshalle montiert waren und die Landebahn von hoch oben bestrahlten. Ein Gesirr und Gezisch lag in der Luft, Gezisch mit winzigen Rauchschwaden, von den Insekten erzeugt, die an den heißen Strahlern verbrannten. Richard wußte, daß in den Tropen unvorstellbare Massen von Insekten lebten, jetzt sah er zum ersten Mal solche Massen im gleißenden Kunstlicht einer Tropennacht, war davon fasziniert und erschreckt.