Weit, weit entfernt, aus seltsamer Tiefe gehoben und doch nah, hörte er einen Ton, der ihm durch Mark und Bein ging. Dunkel, wie aus einem Horn geblasen, mal schwächer, mal stärker, eine Drohung, die aus der Nacht auf ihn zurückte, beim Heranrücken vielleicht durch dicke Baumstämme gebremst wurde, die den Schall ein wenig von seiner Hütte ablenkten, um dann mit unverminderter Macht wieder direkt darauf zuzuhalten. Richard lag da wie gesteift. Etwas unvorstellbar Grauenhaftes, für das er keinen Namen wußte, kam ihn holen. Schweiß brach ihm aus allen Poren, er fühlte, wie seine Hände zitterten. Mit weit aufgerissenen Augen lag er allein im Dunkel der Nacht, unfähig, aufzustehen und die Lampe anzuzünden. Jäh fiel ihm ein Traum seiner Kindheit ein, aus dem er jedesmal schreiend erwacht war — in ein friedliches Gebirgsdorf mit Holzhäusern, auf deren Dächern der Schnee lag, kam ein Hirte mit einer Herde Mammuts gezogen, riesigen Tieren, ein jedes größer als die Häuser, an denen sie auf ihrem Pfad vorbeischritten. Der Hirte war winzig neben ihnen und seine zwei Hütehunde auch. Da stürzte das kleinste Mammut, das am Ende der Reihe gegangen war, und blieb liegen im Schnee. Der Hirte fluchte und stieß ihm die Stiefel in den Bauch, aber davon war es nicht hochzukriegen. Er befahl den Hunden, anzugreifen, und sie bissen überall in sein Fell, doch blieben die Bisse wirkungslos, weil die Hunde so klein waren. Da packte den Hirten die Wut, wie aus dem Nichts holte er eine Peitsche hervor und hieb damit so erbarmungslos auf einen der Hunde ein, daß er ihm das Rückgrat brach. Das gellende Geschrei des Hundes füllte das Tal, füllte die Ohren des kleinen Richard, daß er laut schreiend erwachte.
Obwohl etwas in ihm wußte, daß die Szene aus der Erinnerung aufgetaucht war, gewann sie solche Macht über ihn, als hätte er sie gerade von neuem geträumt — mit einem Unterschied: das größte der Mammuts, ein riesiges braunzottiges Tier, wandte den Kopf zu ihm her und sah ihn aus kleinen Augen an, dann hob es den Kopf mit den langen gebogenen Stoßzähnen in die Höhe, und der schreckliche Ton, wie von einem Horn geblasen, schallte durch das Tal.
Da unten mußte noch immer der Panther liegen. Richard klammerte sich an den Gedanken, daß in dem sprachmächtigen Tier die Rettung aufgehoben sei, darum beugte sich sein traumverhangener Kopf aus der Matte und suchte Kontakt.
Zunächst tat sich nichts, selbst das Wischen blieb aus. Als aber Richard zum zweiten Mal flehentlich zu dem Panther hinunterflüsterte, drang eine dunkle, wiewohl klar zu verstehende Stimme zu ihm herauf, die sagte: Ich höre.
Zwei, drei Sekunden hielt Richard den Atem an, dann erfüllte ein Brausen seinen Kopf, und die Worte brachen nur so aus ihm heraus. Alles, was ihn je bedrängt hatte, alles, was er je hatte wissen wollen, wozu da, woher gekommen, wohin bestimmt zu gehen, wieso leiden, schuldhaft, schuldlos, gestraft, ungestraft oder erlöst, von wem, weshalb, wofür; alles, alles, alles brach sich Bahn, und von unten drang Gelächter herauf, das sich ein wenig raunzig anhörte, aber einmal in Fahrt, war Richard nicht mehr zu bremsen und vertraute der Bodenritze den ganzen Salat seiner Kümmernisse und Fragen an, und siehe da, im Laufe der Nacht, die eine kleine Ewigkeit währte, wurden die Dinge sortiert, Naturgeschichte, Menschengeschichte, Theodizee, es wurde habhaft gefragt und wie mit Reißzähnen präzis geantwortet, wobei die Konversation mit den verschlungenen Worten des Panthers endete, der Dschungel sei bald kein Dschungel mehr, Richard werde ja sehen.
Als das Gespräch erlahmt war, lehnte sich Richard in seine Matte zurück, doch bevor der Schlaf ihn weitertrug, gaukelte noch eine Szene in seinem Kopf herum, die ihn nach Münster in die Flure der Universität führte, wo Richard die Tür zu Blumenbergs Sprechzimmer aufstieß. Ohne lang zu fackeln, setzte er sich dem Professor gegenüber an dessen Schreibtisch und legte los. Die Augen des Professors wurden groß und größer, Erstaunen malte sich in ihnen, und mit diesem herrlichen Bild im Kopf schlief Richard, als der Morgen dämmerte, wieder ein, schlief wohlig und tief, wie er nie zuvor geschlafen hatte.
Die Tagesgeschäfte waren längst im Gang, als er erwachte. Zum Frühstück gab es den vertrauten gebutterten Maniokbrei, der ihm diesmal von einer weißhaarigen Frau gebracht wurde, deren Mund eine einzige Runzel war. Der Frachter sollte erst gegen Mittag abfahren, so hatte Richard noch Zeit für einen Spaziergang. Er folgte einem breiten Weg, der aus der Siedlung herausführte, und war erst fünf Minuten gegangen, da eröffnete sich vor ihm ein freies Feld, groß, riesengroß sogar und ziemlich quadratisch, eine kahle Fläche, die in den Wald hineingefräst worden war. Auf der Fläche regten sich keine jungen Triebe, da war nichts außer Sand und kümmerlichem Gras. Der Anblick war bestürzend. Alle Kräfte, die er während der Nacht gesammelt hatte, wurden ihm weggenommen. Richard machte kehrt und hatte nur noch den einen Wunsch: zurück in die Hängematte und weiterfahren!
Manaus
Sobald er wieder dort lag, wo er hingewollt hatte, hellte sich sein Gemüt auf. Im lauen Fahrtwind dahintreibend, fiel es ihm leicht, sich in das nächtliche Abenteuer zurückzuversetzen, kostbar, immer kostbarer kam es ihm vor, weil inzwischen die Angst fehlte, die es ursprünglich begleitet hatte.
Zu seiner flirrenden Stimmung trug ein Mädchen bei. Höchstens vierzehn Jahre war es alt und so schön, daß Richard manchmal die Augen schließen mußte, weil er nicht glauben konnte, daß es einen so schönen Menschen überhaupt gab. Sie waren miteinander bekannt geworden, als sich das Mädchen an den Bug gestellt hatte, um ins aufgewühlte Wasser zu sehen. Es hatte nicht lang gedauert, da sprach sie ihn an, er selbst hätte sich das niemals getraut. Mit einer natürlichen Bewegung, gegen die es nicht den kleinsten Einwand gab, zog sie einen herrenlosen Schemel heran und setzte sich neben seine Matte. Richard richtete sich etwas auf, er kam sich plötzlich wie in einem Krankenbett vor, mit einer Krankenschwester neben sich, die ihn aufmerksam betrachtete.
Es begann alles so leicht. Richard mußte gar nichts tun. María kam mehrmals am Tag, manchmal auch nach Einbruch der Dunkelheit, und leistete ihm Gesellschaft. Offenbar reiste sie ohne Begleitung. Noch nie war ihm ein Wesen begegnet, mit dem er sich auf so heitere und mühelose Weise verstand. All die Zahnrädchen, die sich sonst bei ihm in Bewegung setzten, wenn er einer anziehenden Frau begegnete, blieben still, er trug kein Verlangen danach, aufzutrumpfen oder eine seiner üblichen Komödien aufzuführen, er wartete einfach, bis sie kam, freute sich, wenn sie kam, und fühlte sich von jeder Begegnung beglückt, als hätte ihn eine schmale Göttin aufgesucht, um Tautropfen auf seine Stirn zu träufeln.
Natürlich, sie war noch sehr, sehr jung. Aber hatte nicht Novalis ein blutjunges Mädchen begehrt, und war nicht der bucklige Lichtenberg mit einem Mädchen glücklich geworden, das um Jahrzehnte jünger war als er selbst? Zwischen ihnen war der Altersabstand gar nicht so groß. Höchstens elf, zwölf Jahre, vielleicht dreizehn. Auch war der Abstand erheblich kleiner als der zwischen Humbert Humbert und Lolita. Der Vorteil seiner Lolita bestand außerdem darin, daß sie kein zickiges, verkitschtes Mittelklassegirl aus dem amerikanischen Norden war; umgekehrt hatte er sich keiner der unsauberen Strategien Humbert Humberts bedient, um sich an sie heranzupirschen. Er konnte keinerlei Schande in ihrem keimenden Verhältnis erblicken, er unternahm nichts, gar nichts, um María anzufassen. Mehrere Male schon hatte sie ihn zum Abschied auf die Stirn geküßt.
Sie war Brasilianerin und fand Vergnügen daran, ihm Worte in ihrer weichen Sprache beizubringen, die Richard wie ein braver Schüler geduldig wiederholte. Die Anmut, wie sie den Worten mit Blicken aus großen ernsten Augen Nachdruck verlieh und mit eifrigen Fingerchen deren Bedeutung untermalte, war einfach hinreißend. O ja, er war verliebt — auf eine chimärische Weise, die nichts, rein gar nichts von ihm verlangte, da eine vollendete Passivität ihn in seiner Hängematte hielt.