Und doch entwickelten sich in ihm allmählich Pläne; er konnte sich nicht enthalten, Wege und Möglichkeiten gedanklich hin- und herzuwälzen, die es ihm erlaubten, María nach Europa mitzunehmen. Es war schwer, ein Glück zu genießen im Wissen darum, daß es bald zu Ende gehen würde. Sie gehörte schon wie selbstverständlich zu ihm, unmöglich, sie nie wiederzusehen, wobei ihm schmerzlich zu Bewußtsein kam, daß er die nächsten Jahre nicht in einer Hängematte würde verbringen können und wahrscheinlich auch nicht in Brasilien. Sobald sein Pläneschmieden gestaltreichere Züge annahm und ihm in der Phantasie ein aktives Handeln abverlangt wurde, befiel ihn ein Unbehagen. Bei dem Gedanken, María mit seinen Eltern in Paderborn bekannt zu machen, verließen ihn die schwungvollen Geister, die ihn beflügelten.
Wie er in Erfahrung brachte, lebte Marías Familie in Belém und eine Tante von ihr in Manaus. In Manaus würde sie mit ihm das Schiff verlassen. Er hatte sich vorgenommen, eine Woche in Manaus zu verbringen. Die am Rio Negro gelegene Stadt, von der aus Fitzcarraldo zu seinem irrwitzigen Schiffsabenteuer aufgebrochen war, zog ihn von allen Städten Brasiliens am meisten an. Wie es dort mit ihm und María weitergehen würde, stand in den Sternen. Die letzten Tage in der Hängematte verrannen in leiser Wehmut und mit leisen Befürchtungen.
Als sie den Amazonas verließen, um wenige Kilometer den Rio Negro aufwärts zu fahren, wurde es auf dem Schiff unruhig. Die Leute brachten ihre Habseligkeiten zusammen oder standen laut schwatzend an der Reling. Es war soweit. Seine Tasche war schnell gepackt.
Wie nah das Schöne am Schrecklichen siedelt, merkte er, als das Schiff in Manaus anlangte und er sich notgedrungen wieder auf zwei Beine gestellt sah. Die Stadt erbrach ihren Müll die Uferböschung hinab in den Fluß. Auf dem Müll kletterten überall Menschen herum. María hatte sich angeboten, ihn zu einem Hotel zu begleiten; er wollte sich in der Innenstadt, in der Nähe des Teatro Amazonas und des Palácio da Justiça, eines suchen. So leicht kam er aber nicht weg. Vom Kapitän wurde er schwungvoll verabschiedet. Sie verließen als letzte Passagiere das Schiff.
Was ihn am Hafen erwartete, schockierte ihn. Als sich das übliche Gewimmel ein wenig verzogen hatte, sah er Menschen herumhocken, auf Brettchen mit Rädern sitzen, auf Krücken stehen, mit entsetzlichen Krankheiten geschlagen, sie hatten Schwären und Beulen und verstümmelte Glieder, so grauenerregend, daß Richard die Augen von ihnen fortwenden mußte. Weißgott, er war inzwischen durch viele arme Länder gereist, war Zeuge geworden, wie an der Grenze bolivianische Landarbeiter von den Argentiniern auf rohe Weise, wie Vieh, mit Fußtritten traktiert und zu Desinfektionszwecken mit DDT besprüht, ja, regelrecht damit überschüttet wurden, er war stundenlang auf Lastwagen herumgefahren zusammen mit bolivianischen Marktfrauen, die so schwere Säcke dabeihatten, daß er sie selbst nicht heben konnte, sie aber schon, und er hatte eine alte Bettlerin sterben sehen, in der Avenida Monroe, in der er in Buenos Aires gewohnt hatte, aber das Elend, das ihm hier entgegentrat, war greller. María, die nicht verstand, warum er hilflos stehengeblieben war, zupfte ihn am Ärmel und führte ihn fort. In seiner Verwirrung hatte er den berühmten Mercado, einen Eisengerüstbau nach den Plänen von Gustave Eiffel, der als Markthalle diente, gar nicht wahrgenommen.
Auf dem Fußmarsch weg vom Hafen beruhigte er sich ein wenig. Mehr dem Inneren zu, als sie die baufälligen Hütten und einige grobe Neubauten hinter sich gelassen hatten, wurde die Stadt immer prächtiger. Es war nicht weiter schwer, ein passables Hotel zu finden, er fand sogar ein schönes, an seinem Unterbau glänzten die floral gemusterten Kacheln, mit denen die Portugiesen ihre reichen Häuser geschmückt hatten. Wahrscheinlich waren Kacheln in dem tropischen Klima eine beständigere Außenhülle als Holz oder ein gewöhnlicher Verputz.
María versprach, am nächsten Nachmittag vorbeizukommen und ihm die Stadt zu zeigen. Im Moment war für ihn alles zu neu, als daß er sich Sorgen hätte machen können, ob sie wiederkäme oder nicht. Mit seinem Hotelzimmer war er sehr zufrieden; es hatte einen Balkon auf eisernen Gerüsten, von dem man auf einen viereckigen Platz mit zwei mächtigen Palmen blickte. Trotzdem fühlte er sich in dem Zimmer wie eingesperrt, stickig war’s darin, nach wenigen Minuten ging er nach draußen, um sich vor ein Café zu setzen und an der freien Luft in Manaus heimisch zu werden.
Obwohl er kein Opernfreund war, hätte er liebend gern eine Darbietung im Teatro Amazonas besucht — allein die Vorstellung, sich in einer kleinen Stadt mitten im Urwald eine Oper anzuhören, war aufregend —, aber das berühmte, 1896 erbaute Theater war geschlossen, sein Inneres mitsamt dem opulenten Ballsaal wohl ziemlich baufällig, termitenzernagt; schon seit Jahrzehnten fanden hier keine glanzvollen Aufführungen mehr statt.
Am Abend aß er in einem kleinen Lokal eine Feijoada aus schwarzen Bohnen mit pfefferscharfen Wurststücken und einer geballten Ladung Knoblauch. Danach trank er zu viele Caipirinhas, die ihm nicht bekamen. Er streunte noch ein bißchen durch die Straßen, kam sich mehr und mehr verlassen vor und lag dann ziemlich früh, mit schwerem Magen, im Bett und konnte nicht einschlafen. Aus Verzweiflung eher denn aus Neigung kramte er Sein und Zeit aus seiner Tasche, schlug darin, weil er sich schon in etlichen Anläufen mit dem Anfang abgequält und kaum etwas verstanden hatte, ein späteres Kapitel auf, dessen Überschrift ihm erlaubte, sie auf seine Situation zu münzen: Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins, und blieb an einer Stelle hängen, die auf ihn zuzutreffen schien, Stelle, an der es hieß, daß die Flucht des Daseins Flucht vor ihm selbst sei, aber im Wovor der Flucht komme das Dasein gerade hinter ihm her. Richard ließ das Buch auf seinen Bauch sinken — unzweifelhaft, etwas kam hinter ihm her, etwas zutiefst Angsterregendes kam hinter ihm her. Aber die Angst war diffus. Wie Heidegger sich ausdrückte, fungierte nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden war, als das, wovor die Angst sich ängstete; die innerweltliche Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen war für die Angst ohne Belang. Sie sank in sich zusammen.
Er war tief in sein durchhängendes Bett eingesunken. Sein und Zeit hatte er mitgeschleppt in der Hoffnung, in anders farbigen Ländern, unter einer anders glühenden Sonne, würde sich ihm der Sinn des rätselvollen Buches wie von selbst erschließen. Bisher war ihm das nicht gelungen, und so hatte er das schwerste Stück seines Gepäcks eher wie einen nutzlosen Stein herumgetragen. Jetzt, zum ersten Mal, hatte ihn eine Stelle in diesem Buch gepackt, ihn angesprochen, als wäre sie eigens für ihn verfaßt worden. Aus dem Buch entstieg etwas ins nicht mehr Geheure. Böse Gedankenfinger umtasteten sein Herz.
Nach einer schweren Nacht, in der die dunkle Bohnenmahlzeit eine düstere Verbindung mit seinen Ängsten einging, erwachte er am nächsten Morgen zerschlagen. Zehn Uhr fünf. Das Wetter war wie immer. Feucht. Warm. Freundlich.
Er bekam Lust, mit María die berühmten Seerosen auf der anderen Seite des schwärzlichen Flußes anzusteuern. In einem Reiseführer hatte er tablettrunde Riesenblätter gesehen, von einer Größe und Stärke, daß ein mageres Knäblein wohlbehalten darin schlummern konnte, ohne unterzugehen. Lufterfüllte Zellen erlaubten der Vitória Regia, sich schwimmend zu erhalten. Einkerbungen am hochgewölbten Rand ließen das Regenwasser ablaufen. Vielleicht würden María und ihm von den Seerosen Winke zugetragen, welches gemeinsame Schicksal ihnen bestimmt war. Die an Wundern reiche Natur konnte ihnen das Wahrscheinliche im Unwahrscheinlichen offenbaren, wer weiß, vielleicht bekämen sie Lust, auf einem Seerosenblatt zu wohnen.