So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten, noch dazu nach Art eines Buchhalters, ohne die verflossene Zeit zu durchdringen und die Tode in einem verschlungenen Netz anspielungsreicher Bezüge zu bergen. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es eben festgehalten, festgehalten zum Zwecke neuerlicher Verwandlung, wie sich bald zeigen wird.
Vorher muß aber noch ein anderer Tod nachgetragen werden, kein verfrühter, sondern ein altersgemäßer: nicht wild, nicht zappelig, sondern ruhig in ihrem Bett (allerdings nicht mit gefalteten Händen, denn sobald die beiden Klosterschwestern, die das Bett umstanden, die Hände ineinander zu bringen versuchten, fuhren sie wieder auseinander), den winzigen haubenlosen Kopf hochgelagert auf einem prall gefüllten Kissen, verschied am 12. März 1987 Käthe Mehliss, und zwar mit dem Satz: Gleich geht’s wieder los, ihr werdet sehen!, wobei sie noch die Kraft fand, das S überscharf zu betonen, wie es immer ihre Art gewesen war.
Ein letzter Zweifel sei hier angemerkt: Wir zögern, die Behauptung Wittgensteins ins Feld zu führen, all diese Tode wären jeweils ein ganzes Leben wert gewesen. Waren sie’s? Das Gegenteil könnte genausogut der Fall sein — der Tod hat keinen Wert, das Leben allen.
Der Löwe V
Über die Jahre hinweg hatte sich Blumenberg an seinen Löwen gewöhnt. Nach der Emeritierung war es um ihn einsam geworden. Nur selten verließ er das Haus, den Kontakt zu seiner alten Universität hatte er verloren, dem Gewühl des Wissenschaftsbetriebes, dem er sich schon vorher weitgehend entzogen hatte, war er völlig abhanden gekommen. Ihm war nur die Verbindung zur eigenen Familie geblieben; die Innigkeit der Gesellschaft mit dem Löwen hatte sich intensiviert. Er lebte mit ihm wie in einer uralten Ehe. Worte waren nicht nötig, man verstand sich auch so. Zugleich wurde der Umgang etwas lax. Ein Schlendrian im Wechsel von Vergessen, Übersehen und Wiederaufmerken stellte sich ein. Helles Entzücken, das Aufjagen von Ideengestöbern, das der Löwe früher in ihm bewirkt hatte, blieb aus.
Auch der Löwe hatte seine Stimmungen. Blumenberg verstand sich fein darauf. Manchmal hatte der Löwe eine mürrische Nacht und schlief, den Kopf vom Schreibtisch abgewandt, und kein Härchen auf ihm regte sich. Dann mühte sich Blumenberg vergeblich, mit einer Satzkanonade mehr Leben in seinem Löwen zu entfachen. Wenn die Ägypter behaupteten, der Löwe sei stärker als der Schlaf, er wache immer, so traf das auf seinen Löwen nicht zu. Sein Löwe war über weite Strecken der Nacht provozierend schläfrig. Vielleicht verfügten die Ägypter über andere Mittel, ihre Begleitlöwen in einem aufmerksamen Zustand zu erhalten.
Längst war er dazu übergegangen, wie ein alter Freund mit ihm zu sprechen — tu nicht so! stell dich nicht so an! konnte er lakonisch zu ihm hinunterrufen, wenn sich der Löwe wieder einmal weigerte, von ihm Notiz zu nehmen. An der Art, wie der Schwanz zuckte, konnte Blumenberg ablesen, ob es sich um eine nervöse, ungeduldige Reaktion handelte oder ob der Löwe, indem er bedächtig die Schwanzquaste über den Teppich führte, ihm seine Zustimmung bedeutete. In seltenen Fällen ließ der Löwe aus der Tiefe seines Bauchs einen Grimmlaut hören, etwas zwischen einem Seufzer und einem Grunzer, dann antwortete Blumenberg: Ahh! Wieder nicht zufrieden, mein preziöser Kamerad! Er nannte den Löwen einen Meister des unscheinbaren Ausdrucks, oder — in Abwandlung eines Satzes, den Nietzsche über sich selbst gesagt hatte — einen Possenreißer schläfriger Ewigkeiten.
Mit der Zeit gab es jedoch viele Nächte, in denen Blumenberg seinen Löwen vollständig vergaß. Anfang September des Jahres 1994 blieb der Löwe während der Nacht zum ersten Mal verschwunden. Blumenberg fühlte eine brennende Erregung in seiner Brust. Fortwährend umrundete er den Schreibtisch und das Stehpult. Auch Musik half nicht, ihn zu beruhigen. Er konnte sich ein Buch vornehmen, die Zeitung, er konnte den Fernseher anschalten, nichts half. Immer wieder suchten seine Augen die Fenster ab, ob der Löwe vielleicht vom Garten hereinkommen würde. Hörte er es draußen rascheln, machte er die Tür auf, was ihm gleich unsinnig vorkam. War der Löwe da, vergaß er ihn. Fehlte der Löwe, fühlte er sich beraubt, mehr als das, er fühlte sich bedroht.
Im Bett nahmen die bedrückenden Brustschmerzen zu. Auch der Kopf schmerzte, ihm wurde übel. Er geriet in eine so angsterfüllte Stimmung hinein, als hätte ihn die Katastrophe seiner Jugend frisch geholt. In eine tiefe Ohnmacht gesunken, wurde er tags darauf ins Krankenhaus eingeliefert.
Als er wieder nach Hause zurückkehren durfte, war etwas Unwiderrufliches geschehen. Die gebrechliche Letztzeit war über ihn gekommen. Daran konnte auch der Löwe nichts ändern. Zwar freute Blumenberg, wie ruhig der Löwe während der ersten, wieder im Arbeitszimmer verbrachten Nacht dalag. Alles wie eh und je. Aber es war eine zittrige Freude. Wenn nur die Kraft dazu gereicht hätte, aufzustehen, wäre er zum Löwen hinübergegangen und hätte sich über ihn gebeugt, um mit der Hand über sein Fell zu streichen. Blumenberg war nun über alle Maßen erpicht darauf, seinen Löwen endlich zu berühren, aber allein die Vorstellung, sich niederbeugen zu müssen und dabei womöglich über dem Löwen zusammenzubrechen, hielt ihn in seinem Arbeitssessel fest. Zitternd vor Schwäche saß er wie ein Gefangener darin. Der drei Meter entfernte Löwe genügte nicht mehr zu seiner Beruhigung. Ohne innigen, handgreiflichen Kontakt hatte er dem lahmen, brütenden Stieren in den Tod hinein wenig entgegenzusetzen. Er sah sich als besiegt an und konnte keinen Trost daraus ziehen, daß die echte, die wahre Geschichte immer zu Füßen der Besiegten saß, die den Tod vor Augen hatten. Die feinen theologischen Obertöne, die sein Werk auszeichneten und die der Löwe in seiner Schwindelexistenz zu bestätigen schien, nutzten ihm jetzt, selbst mit Blick auf diesen gewaltigen Zeugen, wenig — es war ihm nicht möglich, frei heraus zu glauben, daß man nicht einfach nur tot sei, wenn man tot ist.
In manchen Nächten stürzte er in eine tiefe Verzweiflung. Alles war umsonst. Umsonst hatte er so hart gearbeitet. Bald würde es niemand mehr geben, der seine Bücher las. Sie würden in Vergessenheit geraten. Er erinnerte sich an manchen stolzen Satz von ehedem, etwa, er werde seine Lebensarbeit nicht im Stich lassen, bevor die letzte Zeile stehe. Solche Sätze kamen ihm nun aufgeblasen vor. Das Verschwinden seiner öffentlichen geistigen Präsenz hatte begonnen. Er war noch nicht tot und schon nicht mehr vorhanden.
Unbemeistert blieben auch Dinge, die ihm früher keine Mühe bereitet hatten, etwa eine der übereinander gelagerten Kisten aus dem Regal zu ziehen, um an alte Aufzeichnungen und gesammeltes Bildmaterial zu kommen. Er wollte das Abbild zweier Löwen finden, die ihre Tatzen in einen Lebensbaum schlugen, konnte die zugehörige Kiste aber nicht herausbringen. Statt dessen fand sich eine alte Zigarrenkiste mit einer vertrockneten Brasil darin, Sorte, die er in den fünfziger Jahren geraucht hatte. Er klappte den Deckel wieder zu.
An Arbeit war nur mehr selten zu denken. Das Verfassen eines Briefs nötigte ihm viel Kraft ab. Selbst die Telephonate mit dem geliebten Redakteur, die er früher so genossen hatte, waren nur noch selten möglich. Es strengte ihn zu sehr an, sich zu konzentrieren. Auch schien der Redakteur zu merken, daß es ihm nicht gutging, was er, Blumenberg, wiederum als peinigende Bürde für das Gespräch empfand. Zwar kehrte in den folgenden Monaten manchmal etwas von seiner alten Kraft zurück, dann konnte er die Arbeit in gewohnter Weise wiederaufnehmen, aber der erfrischte Zustand hielt nicht lange an. Er wußte um die Kürze der Frist, die ihm noch gewährt war.