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Der junge Baur war gewiß weniger melancholisch, als der Dichter es gewesen war, sein offenes Gesicht mit den geröteten Backen und dem wie bei einem Pagen hängenden Haar erweckte in Blumenberg väterliche Gefühle. Dazu hatte er Segelohren, vorwitzige Lauscher, die als rosige Scheibchen durch das glatte braune Haar brachen.

Blumenberg bat ihn, an dem kleinen runden Tisch in einem der tiefen Sessel Platz zu nehmen, die für Besucher reserviert waren, und setzte sich neben ihn. Vom Fenster aus sah man direkt auf den Domplatz. Blumenberg residierte auf dem Domhügel, in einem bescheidenen Zimmer zwar, aber in exponierter Lage. Keiner der beiden würdigte den Dom eines Blicks.

Baur druckste auch nicht lange herum, warum er denn gekommen war. Von Blumenbergs Wissen sei er schier überwältigt, bekannte er ein und lächelte dazu verlegen, er könne höchstens zehn Prozent, wahrscheinlich weniger aufnehmen von dem, was ihm in den Vorlesungen geboten würde, trotzdem wolle er es wagen, sich an eine Arbeit zu machen, um darin einige der berühmten ken und biblischen Heroen zu vergleichen — Herkules, Perseus, Mopsos, Samson, wobei ihm Samson, der von allen Frauen verratene Samson, der sich so poetisch habe ausdrücken können, besonders am Herzen liege. Dazu wollte er Blumenbergs Rat einholen.

Was die zehn Prozent anlangte, konnte der Professor ihn beruhigen. Auch der wissensdurstigste Mensch könne immer nur das aufnehmen, was sich gerade in den eigenen Kosmos des Denkens einfügen lasse, und damit wirtschaften. Baurs Thema fand er lohnenswert; eine schöne Beute versprach besonders der Vergleich zwischen Herkules und Samson, wie ihn Baur noch etwas unsicher zwar, aber mit flackernden Redeflämmchen skizzierte. Blumenberg verlor sich in Gedanken an die hünenhafte Gestalt des jüdischen Muskelprotz’ mit den sieben Zöpfen; zitternd, einsam und zerrieben von Leidenschaften den göttlichen Heilsplan erfüllend, war an ihm viel Kindliches, die Kindlichkeit des Leckermauls etwa, das mit der bloßen Hand Honig aus dem Skelett des Löwen geschöpft hatte.

Was Blumenberg in den letzten Jahren eher von sich ferngehalten hatte, nahm er jetzt wieder auf: er ermunterte den Studenten, ihm über den Fortgang der Arbeit zu schreiben, mit Hinweisen und Kommentaren werde er ihm zur Seite stehen.

Baurs Ohrenscheibchen glühten vor Freude, als er behutsam die Klinke des Sprechzimmers niederdrückte und leise, leise, als müsse der Schlaf eines Säuglings behütet werden, die gepolsterte Doppeltür hinter sich schloß.

Blumenberg fühlte sich wohl. Die Bescheidenheit des jungen Mannes, sein Eifer, die Intelligenz, die aus manchen seiner Redewendungen hervorblitzte, waren ein Beweis: es war doch nicht alles umsonst, was er lehrte. Einiges davon landete in den auffangsamen Ohren eines Studenten, keimte und sprießte dort auf überraschende Weise. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dem jungen Baur über den Kopf streichen zu wollen, um ihn zu behüten.

Wenig später verließ er das Gebäude. Heute hatte er Lust, zu gehen und für den Weg nach Altenberge nicht gleich ins Auto zu steigen. Es war ja ein herrlich frühabendlich warmer Tag, nicht heiß, nicht zu kühl, genau das richtige Wetter für einen Spaziergang. Er entschloß sich zu einer kleinen Runde entlang der Aa. Alle Blätter hatte der Spätfrühling in Vollendung herausgetrieben, noch kaum eines war von Raupen skelettiert worden oder krümmte sich staubverkrustet um seinen Stengel. Leichte Raschelwinde waren in die Bäume gefahren, ihre Äste schienen zu winken. In den feuchten Blumenbeeten glühte es rosa, weiß, rot, lavendelfarben. Zwei verirrte Enten watschelten über den dunstigen Rasen. Er blieb stehen und versank in der Betrachtung einer braunen Tulpe; mit sehr geradem Stengel, würdevoll erhobenen Hauptes, ganz für sich stand sie inmitten ihrer buntfarbenen Schwestern, die krumm und fröhlich durcheinanderwuchsen.

Der Anblick ihrer bepelzten Staubbeutel von intensiv leuchtendem Schwarz begleitete ihn noch einige Schritte, bis er sich allmählich verlor. Unterwegs drehte er sich zu mehreren Malen um. Ob der Löwe ihm folgte? Nein, der Löwe zeigte sich nicht. Was wäre, wenn seine Familie von der Existenz des Löwen erfahren würde? Nicht durch ihn, er würde ja kein Wort darüber verlieren. Aber seine Frau, seine Tochter, die Söhne waren schlau, keineswegs fühllos bezüglich wichtiger Dinge, die um ihn herum geschahen, wer wußte es, vielleicht teilte sich zumindest der Löwengeruch ihnen mit. Er lachte bei der Idee, man würde in seinem Haushalt nun riesige Fleischportionen für den Löwen täglich bereitstellen und ihm diese in einem übergroßen Hundenapf servieren. Andererseits war dieser sehr spezielle Löwe wahrscheinlich jahrhundertelang ohne Fleischzufuhr ausgekommen.

Er mußte unbedingt in Erfahrung bringen, wem sich der Löwe beigesellt, wem er zuvor gedient hatte. Mit Fleisch? Ohne Fleisch? Ohne Fleisch, entschied Blumenberg. Der Witz des Löwen bestand gerade darin, daß er existierte, ohne nach Art seiner Naturbrüder die ihm gemäße Portion Fleisch zu verschlingen. Er tauchte auf und verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen, hatte es nicht nötig, die Tatzenabdrücke mit dem Quast seines Schwanzes zu verwischen, um die allegorische Christusnähe unter Beweis zu stellen (was im Arbeitszimmer oder im Hörsaal ohnehin unmöglich gewesen wäre); er mußte nicht aller Welt zeigen, daß er ähnliches tat wie Christus, der seine Göttlichkeit als Mensch immer wieder verborgen hatte. Sein Löwe hinterließ keinen Löwenkot und keine Haare auf dem Teppich, jedenfalls nicht 1982, nicht in der Stadt Münster an diesem schönen Maitag, über dem jetzt die Dämmerung aufschwoll, die ihn beendete.

Der Löwe II

Auf dem Weg zum Parkplatz kam er an der Skulptur von Ulrich Rückriem vorüber, die im Gras aufragte und viel Unmut erregt hatte und noch immer erregte. Die auf der Vorderseite eher gerade abfallenden, hinten schräg verlaufenden Platten, die nebeneinander gestellt Felswände simulierten, hielt Blumenberg für entbehrlich, aber sein Ärger ging nicht so weit, daß er sich deswegen öffentlich hätte äußern wollen. Da die Platten immer wieder beschmiert wurden und dann gereinigt werden mußten, konnte das Moos die Unglücksskulptur nicht von allen Seiten überziehen und in ein grünliches Ungefähr entrücken. Im regenreichen Münster hätte das Moos sonst bereits ganze Arbeit geleistet.

An scheußlichen Skulpturen gab es in der Stadt keinen Mangel. Das häßlichste Monument war die Statue des Grafen von Galen, des Löwen von Münster, der im Dritten Reich gegen die Euthanasieprogramme und die Umtriebe der Geheimen Staatspolizei von der Kanzel aus zu Felde gezogen war. Ein stattlicher Mann, ein westfälischer Hüne mit wuchtigem Kopf und Donnerstimme, der sich nichts hatte gefallen lassen und schon 1934, in einem Osterbrief, die neuen Machthaber in ihrem gottwidrigen Denken und Handeln angegriffen hatte. Fest, hart, zäh wie ein Amboß, auf den er sich so gerne berief, war der Mann gewesen. Die Statue, die ihn vorstellen sollte, war übel. Eine verkitschte, verschlankte Skulptur, deren Ästhetik aus der NS-Zeit herrührte; allerdings hatte der Künstler die Muskeln und auch sonst alles, was den Löwen von Münster ausgemacht hatte, weggeschliffen oder fortgelassen. In unpersönlich fader Geradheit, den rechten Arm lächerlich erhoben, als jämmerlicher Popanz stand die Gestalt auf ihrer Stele; ihr war nicht zuzutrauen, daß sie auch nur einen Pieps gegen die Tötungsmaschinerie zustande gebracht hatte.

Während der Heimfahrt erfreute sich Blumenberg an dem saftigen Grün, das in Wiesen und Tälern im Kontrast zu den schwarzen Waldinseln noch immer aus der Dämmerung hervorleuchtete. Er war in gehobener Stimmung und erwartete die Nacht.