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Er geriet so leicht und sein Körper so lang.

Gerhard kam, was Söhne selten tun, so sehr nach den Wünschen der Mutter, daß es schier unheimlich war. Keiner von den üblichen Zuffenhausener Gassenfratzen wuchs im zweiten Stock der Tuchbleiche 7 heran. Schon bevor er in die Schule kam, lernte er lesen und war daraufhin mit den Büchern eins wie andere Jungs mit ihrem Fußball. Er schleppte sie ins Bett, aufs Sofa, an den Küchentisch, in die Straßenbahn, ins Mineralbad Berg. Ein klarer Fall fürs Gymnasium, ein gutes, altsprachliches. Gerlinde bedauerte nur, daß ihr Kleiner so schnell wuchs. Mit dreizehn war er schon anderthalb Kopf größer als die Mutter und beugte sich zu ihr nieder, wenn er mit ihr sprach. Es war, als wäre der alte Optatus aus dem verschwiegenen Reich der Toten heraufgezogen und hätte seinen erzieherischen Schatten über den jungen Optatus gleiten lassen; Gerhard wurde sanftmütig und witzig. Ihm machte es nicht das geringste aus, wenn man ihn seines Namens wegen verspottete, im Gegenteil, er schien es zu genießen. In der Schule wurde er Geges genannt, ein Spitzname, der sich beim Wechsel an die Universität verlor. Auch wenn er trotz seiner Länge körperlich gegen die stärkeren Klassenkameraden wenig auszurichten hatte, war er bei ihnen beliebt. Gerhard war schlau, umgänglich, bei Prüfungsarbeiten nützlich und schnell bereit, von dem wenigen, was er besaß — zum Beispiel raffiniert belegte Brote mit krosser Kruste, die seine Mutter ihm morgens in die Tasche steckte —, die Hälfte herzugeben.

Schon in der Schule hatte Gerhard Blumenbergs Genesis der kopernikanischen Welt gelesen, ohne sie recht zu verstehen zwar, aber mit flammender Begeisterung und der geheimen Genugtuung, daß er wahrscheinlich der einzige in Zuffenhausen war, der darin las. Mit dem Buch in der Hand fühlte er sich wie ein Erwählter. Von seinem Taschengeld hatte er sogar die teure Leinenausgabe gekauft, hatte mit spitzem Bleistift und einem kleinen Lineal so viele Sätze unterstrichen und so viele Ausrufungszeichen an den Rand gestrichelt, daß das Buch mit den grauen, auf den jeweiligen Rückseiten durchgedrückten Linien merkwürdig bleiern und aufgeplustert aussah.

Ehrensache, Gerhard mußte bei Blumenberg studieren; nach dem Abitur schrieb er sich an der Westfälischen Universität Münster ein, wo er im ersten Semester während einer Vorlesung auf Isa aufmerksam wurde und sich viele Wochen damit begnügte, sie aus der Ferne zu betrachten, bis er — vorsichtig, auf verschlungenen Wegen, bei jeder Begegnung mit geröteten Wangen dastehend und nicht recht wissend, wohin mit seinen langen Armen und heißen Händen — näher mit ihr bekannt wurde.

Waren sie nun ein Paar, oder waren sie keines? Schwer zu sagen. Gerhard war jedenfalls deutlich der Verliebtere. Ihm oblag es, sich um die junge Frau zu kümmern, allerdings auf diskrete Art. Am Anfang, als sie einige Nächte im antiken Eisenbett Isas verbracht hatten, war es schwierig zugegangen, nicht so, daß Gerhard versessen gewesen wäre, auf eine Fortsetzung der Bettgelage zu drängen. Was sollte man von einer Frau halten, die sein spärliches Brusthaar zwischen den Fingern zwirbelte und dabei Kinderworte vor sich hinlispelte? Er verfluchte die Pfosten und das Gitter. Kläglich eingesperrt war er in diesem Eisenbett gewesen und hatte an seiner Länge weit über das übliche Maß gelitten, hatte mit angewinkelten Knien dagelegen wie ein bleierner Schmerzensmann und kein Auge zugetan, war sich wie ein Verbrecher vorgekommen, weil er es gewagt hatte, sich in den schmächtigen Körper der Geliebten hineinzuzwängen, während sie wie abwesend unter ihm gelegen hatte, noch dazu in einem Bett, das für ihn fünfzehn Zentimeter zu kurz war und über dem Patti Smith im Männerhemd, das Jackett mit der silbernen Fliegerbrosche lässig über die Schulter gelegt, abschätzig, wie er glaubte, auf ihn herabsah.

Obwohl er sonst frei mit Menschen umgehen konnte, auch mit klügeren und schöneren, machte Isa ihn befangen. Sie war in einer anderen Welt groß geworden und gewohnt, daß die Umgebung sich ihren Wünschen fügte. Sie kam aus Heilbronn. Ihr Vater war dort Knopffabrikant. Kurz & Söhne, eine Traditionsfirma, berühmt für ihre Steinnußknöpfe, Kirschkernknöpfe, Hornknöpfe, Perlmuttknöpfe, Metallknöpfe mit Gravuren, stoff- und lederbezogenen Knöpfe, darunter Jägerknöpfe, lautlos zu- und aufknöpfbar, auch weiße Zwirnknöpfe, solche altmodischen Wäscheknöpfe mit sternförmig ausgerichteten Fäden, die Halle vollgepackt mit komplizierten Maschinen zum Drehen, Schneiden, Bohren, Fassen, Fräsen, Zähneln, Fädeln, Glätten, Prägen und Polieren, für jeden Grundstoff, aus dem die Knöpfe gemacht wurden, eine eigene Maschine.

Nicht eigentlich schön, hatten Isas schmächtige Gestalt, der rasch abgleitende Blick, das flaumige Kükenhaar, der kindliche Busen, kindliche Patschhände, die nicht zu den dünnen Ärmchen passen wollten und immer etwas fahrig herumhantierten, wenn sie zum Beispiel in der Küche Brot schnitten und um ein Haar daneben- und ins eigene Fleisch schnitten, etwas Anrührendes. Gerhard fühlte sich für sie verantwortlich, hätte aber nicht angeben können, wofür genau. An Geld hatte sie monatlich bestimmt das Fünffache zur Verfügung; sie besaß eine weitverzweigte Familie, die sich ständig nach ihr erkundigte, sie fuhr einen nachtblauen Alfa Giulietta, hatte in Münster mehr Bekannte als er und verbrachte die Semesterferien auf einem Landsitz der Familie in Mallorca, während er das Leben eines kleinen Mannes führte, der in einem Tengelmann-Supermarkt Erbsendosen aus Kartons packte und in die Regale schichtete.

Trotzdem, im Vergleich zu Isa empfand er sich selbst als ein Muster der Stabilität. Sie war zwar kein Irrwisch, hatte aber in ihrem Gebaren etwas flackernd Unstetes, war in Melodramen verwickelt, die er nicht entschlüsseln konnte. Rasch wechselten Gemütszustand und körperliche Spannkraft zwischen der Trägheit einer Bekifften (in erwartungsvoller Trance) und einem Zappelphilipp; manchmal bekam sie etwas so eigentümlich Abwesendes und Starres, als säße da urplötzlich ein fremder Mensch. In solch verstörenden Momenten fürchtete er, ein Inferno würde aus ihr herausbrechen, das Gesicht sich zu einem einzigen Schrei verziehen; er war aber nervenstark genug, nicht zu fragen, was ihr durch den Kopf ging. Gerhard besaß ein feines Gespür, wodurch man einem Menschen lästig werden konnte. Insgeheim machte er sich Sorgen und grübelte, wovon der schmale Kopf seiner Freundin beherrscht wurde.

Blumenberg beherrschte ihn, soviel war sicher. Anfangs hatte Gerhard geglaubt, es sei ein Modeflitz, ein windiger Versuch, sich zu den Intellektuellen der Stadt zu zählen, weshalb sie seine Vorlesungen besuchte und von ihnen schwärmte. Er merkte aber schnell, daß er sich getäuscht hatte. Isa las Blumenbergs Bücher womöglich mit größerem Eifer als er selbst, und sie besaß ein unheimliches Gedächtnis dafür, wie Blumenberg sich ausgedrückt, welche Gesten er dazu gemacht, welchen Anzug und welche Krawatte er getragen hatte, wie ihm der Hut auf dem Kopf saß. Manchmal wiederholte sie Blumenberg-Sätze wie ein Papagei, ob sie nun in den Zusammenhang des Gesprächs paßten oder nicht: Wir wissen, daß wir sterben müssen, aber wir glauben es nicht, weil wir es nicht denken können. Sie wurde böse, wenn er von Blumenbergs fast kahlem Schädel als poliertem Eierschädel sprach, wenn er das Auftauchen und Verschwinden durch die Seitentür als einen Deus-ex-machina-Kniff bespöttelte. Spielte er darauf an, daß Blumenberg ein Familienvater mit mehreren Kindern war, schwieg sie eisern.

Unter Blumenbergs Einfluß begann Isa seltsam zu reden. Sie spickte ihre Sätze, die sich normalerweise vom Jargon der jungen Münsteraner Studenten kaum unterschieden, mit ausgefallenen Wörtern und Wendungen. So redete sie nicht mehr vom Schatten, sondern vom Schattenwurf, vom Grab als von der Verwahrhöhle, eine Nacht war nicht mehr einfach eine Nacht, sondern ein romantisches Rezidiv der Nacht, was sie nicht davon abhielt, wieder und wieder The River von Bruce Springsteen zu hören und die steile Frisur von Grace Jones für ein bedeutendes Kunstwerk zu halten. Natürlich wurde sie zornig, wenn er sie wegen solcher Ungereimtheiten auf den Arm nahm und sie einen bilanztechnisch einwandfreien blumenbergischen Erinnerungsposten mit fragwürdigem Kunstverstand nannte. Aber ihr Zorn verflog schnell. Hingerissen schaute er auf den enganliegenden roten Pullover, über den mittig ein Band aus schwarzen Rechtecken von oben nach unten lief, das sich über dem Busen weitete.