Merkwürdig war auch, daß Isa immer in der ersten Reihe sitzen wollte und es nicht mochte, wenn er neben ihr Platz nahm. Sie wolle sich ganz auf die Vorlesung konzentrieren, dabei würde er nur stören. Nun, er saß eh nicht gern in Reihe eins. Aber er war irritiert. Seine Blicke wurden oft von Blumenberg abgezogen und wanderten zu ihrem Schopf, wobei er sich wunderte, daß sie während der fast zweistündigen Vorlesung so pharaonenhaft dasaß, ausgerechnet Isa, die sonst auf Stühlen herumrutschte, sich in die Haare fuhr, an den Knöpfen ihrer Hemden nestelte (sie trug niemals Blusen, sondern nur Pullover oder Männerhemden, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß waren), einen Schal zwischen den Fingern drehte und in raschem Wechsel ein Bein über das andere schlug.
In etwas schwächerer Form beherrschte Isa noch eine weitere Figur: Virginia Woolf. Gerhard nahm sie für weniger bedenklich, da sie längst tot war und keine Gefahr bestand, daß sich Isa verzückt zu ihren Füßen hinkauern würde. Isa hielt sich für durch und durch dallowayisiert, wie sie es selbst nannte, alles um sie herum geschehe gleichzeitig und sie sei auch mit allem durch energetischen Fingerspitzenkontakt in Schwingung gesetzt. Mit einem Ernst, von dem schwer zu entscheiden war, ob gespielt oder nicht, glaubte sie, die Verbindung mit ihm, Gerhard, hätte etwas von Mrs. Dalloways alter Liebe zu Peter Walsh. Der Moment würde kommen — natürlich in einigen Jahrzehnten erst —, da sie längst verheiratet wäre und er sie nach langen, langen Irrwegen durch die Welt besuchen würde, um auf ihrem Sofa in Tränen auszubrechen.
Gerhard konnte sich das weniger gut vorstellen, weder die Irrwege noch das tränenreiche Sofasitzen. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er nicht mehr geweint.
Eine andere Behexung hielt Isa jedoch strikt vor ihm verborgen; mit keiner Silbe sprach sie davon, zu niemandem. Wenn sich die Tatsache, daß sie bei einer Koryphäe mit Namen Blumenberg studierte, noch einigermaßen mit Patti Smith und Mrs. Dalloway verbinden ließ, zwei Figuren, die über Generationen hinweg eine anziehende und exzentrische Art, weiblich zu sein, verkörperten, so ließ sich der Roman, den sie wieder und wieder las, um seine verschwenderische Liebesopulenz in den Schlaf hinüberzunehmen und sich selbst an die Stelle der Protagonistin zu versetzen, im Licht des Tages, geschweige denn der von Blumenberg gelehrten Vernunft nicht damit verbinden. Isa schämte sich für ihre Vernarrtheit, ach was, Verranntheit. Rettungslos war sie an einen Roman gefesselt, einen unbekömmlichen, sogar gefährlichen. Einen Roman, dessen Kitschvibrato ihre Eingeweide erregte, den sie aber, wäre sie von jemandem auf ihn angesprochen worden, lauthals verlästert hätte.
Alles, was sich in der Schönen des Herrn von Albert Cohen zutrug, wies auf sie und hatte Blumenberg im Schlepp. Nebensächlich, daß der Roman in den vierziger Jahren spielte, der männliche Held ein aus allen Verbindungen gerissener Jude war und die Frau, die er verführte, eine sittsame, verheiratete, sich langweilende Schweizerin aus gehobenem Calvin-Milieu. Das gehobene Milieu konnte Isa zwar für sich in Anspruch nehmen, sonst aber eigentlich nichts. In ihren Gedankenflügen modelte sie alles um, bis ihre Liebe dem Roman zu gleichen schien: Blumenberg war Jude, und er war insgeheim erotisch gefährlich, ein Verführer mit sprühenden Augen am Rande des Luziferischen, des Sardonischen, des Mit-allen-Wassern-Gewaschenen, ein Sprachmagier, der in Zungen redete, dem aber auch Flüche entfuhren aus abgründiger Verdorbenheit und Verzweiflung heraus, geradeso wie dem Solal des Romans, mal ein Chamäleon, mal ein ältlicher abgerissener Jude, mal ein strahlender Frauenverwickler mit üppigen schwarzen Locken. Sie übersah dabei souverän, daß es um Blumenbergs Judentum komplizierter und durch die katholische Taufe anders stand, vor allem aber übersah sie, daß er ein Familienmann mit zwar exzentrischen, aber eisernen Gewohnheiten war, der sich weder kopflos noch strategisch in irgendwelche Abenteuer stürzte.
Wie kamen sich die ungleichen zwei überhaupt näher? Obwohl Isa den ersten Teil des Romans beim Lesen genoß, konnte sie die Verführungsszenen nicht recht im eigenen Romangehäus unterbringen. Zwischen ihnen fing’s anders an und nahm erst dann Cohens reißende Fahrt auf — mittlerweile hatten die Szenen eine solche Gewalt über sie, daß sie nicht nur während des Einschlafens alles wieder und wieder durchlebte, sondern auch am hellichten Tag, wenn sie in ihrem Alfa über die Autobahn fuhr, beim Fahrradfahren in der Stadt, wenn sie in der Vorlesung saß oder im Park der Universität auf einer Bank.
Es goß in Strömen. Jedesmal, wenn es in ihrem Kopf in Strömen goß, versuchte sie verzweifelt, den Film zu stoppen, aber keine Ablenkung half. Gerhard? Ach was, Gerhard. Gerhard war ein lieber, kluger Kerl, aber sie brauchte einen Mann, der sie mit Stumpf und Stiel ausrottete.
Es goß in Strömen. Sie stand durchnäßt am Straßenrand und hielt eine Mappe über den Kopf. Eine Peugeot-Limousine fuhr vorüber und setzte zurück, der Scheibenwischer arbeitete wie verrückt — sie konnte erst nicht erkennen, wer darin saß —, Blumenberg war’s, der Professor höchstpersönlich! Er kurbelte das rechte Fenster herunter und fragte, ob er dem Fräulein helfen und es irgendwohin fahren könne. Sie lauschte dem Wort Fräulein nach, als sie im Wagen saß, längst hatten es die jungen Leute ausgemustert, aber aus Blumenbergs Mund klang es auf altertümelnde Weise bezaubernd.
Verfroren saß sie in Blumenbergs Wagen, er reichte ihr eine Jacke, die auf der Rückbank gelegen hatte, und deckte sie damit zu, und es entspann sich ein Gespräch in der trockenen Kabine, umschwemmt von Regengüssen, ein Stichwort fiel, Spätzeitliebende, sie waren Spätzeitliebende mit verfeinerter Aufmerksamkeit, bei denen alles möglich war, die Liebe konnte den Schutz des neuzeitlichen Höhlenmenschen angreifen und durchbrechen, da waren sie sich einig, aber nur der kürzeste Weg zur Liebe war plausibel — logisch, daß sie beide die ursprünglichen Fahrziele vergaßen, weil sie nicht mehr voneinander lassen konnten und Kurs auf eine andere Stadt nahmen, die nicht in Deutschland lag (in Isas Vorstellung blieb sie unscharf), und in einem eleganten Hotel übernachteten, und dann — ja dann entwickelte sich so ziemlich alles wie im Roman, sie waren wurzellos und zogen von einem Hotel ins andere, von den Luxushotels in die niederen Absteigen, und huldigten ihrer Liebe, die schrecklich wurde und aus theatralischen Gesten der Verstoßung — seinerseits — und winselnder Demut — ihrerseits — bestand, was mehr und mehr einer Travestie mit rotgemalten Wangen glich, mehr als der hohen Schule der Liebe, der sie sich verpflichtet hatten, als er ihr das Liebesjoch auferlegt und sie sich freiwillig darunter gebeugt hatte, bis der Tod im Zimmer stand, den er ihr zuerst gab, dann sich.
Sonntag
Gerhard bewohnte zwei winzige Kammern, sommers brüllend heiß, im Winter mausekalt. Sie lagen im Dach eines fünfstöckigen Neubaus, dessen Balkone wie halbierte Oktogone übereinander gestapelt waren. Seine Wohnung hatte allerdings keinen Balkon, statt dessen Luken, nur mit Gewalt zu öffnen, weil die Rahmen sich verzogen hatten. Siebzehn Jahre war das Haus alt, doch die Wände im Treppenhaus hatten schon die Krätze. Die ehemals vanillecremefarbene Ölhaut war grünlich verrunzelt und blätterte ab. Er vermied es, Isa dorthin einzuladen, obwohl seine beiden Kammern sauber waren, sauberer jedenfalls als die Zimmer Isas und die ihrer Mitbewohnerinnen. Seine Wohnung war so vollgestopft mit Büchern, daß man den mißratenen Schnitt, die scheußlichen Rauhfaserwände, die plumpen Plastikbeschläge an Fenstern und Türen fast vergessen konnte.