»Warum solltest du dich sorgen, wenn sie deine eigenen sind?«
»Merkst du eine Veränderung?«
Sie musterte ihn. »Du bist nicht so blaß, und du trägst Kontaktlinsen.«
»Ich trage keine Kontaktlinsen.«
»Dann hast du vielleicht deine Gewohnheiten geändert und liest nicht mehr im Dunkeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dein Interesse an all diesem Unsinn nie verstanden.«
Vergil starrte sie verblüfft an. »Es ist faszinierend«, sagte er. »Und wenn du nicht sehen kannst, wie wichtig es ist, dann…«
»Werde nicht schnippisch über meine speziellen Blindheiten. Ich gestehe sie ein, aber ich denke nicht daran, mir irgend etwas anzutun, um sie zu ändern. Nicht, wenn ich die Welt in dem Zustand sehe, in dem sie heutzutage ist, weil Leute mit deinen intellektuellen Neigungen sie dahin gebracht haben. Wahrhaftig, jeden Tag erfinden die da drüben in den Laboratorien neue Weltuntergangswaffen!«
»Du darfst die meisten Wissenschaftler nicht nach mir beurteilen, Mutter. Ich bin nicht typisch. Ich bin ein wenig…« Er konnte das Wort nicht finden und grinste. Sie beantwortete das Grinsen mit dem knappen Lächeln, das er nie hatte deuten können.
»Verrückter«, sagte sie.
»Unorthodoxer«, verbesserte er sie.
»Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Vergil. Was für Zellen sind das? Bloß Teile deines Blutes, an denen du gearbeitet hast?«
»Sie können denken, Mutter.«
Wieder reagierte seine durch nichts zu erschütternde Mutter in keiner vorhersehbaren Weise. »Gemeinsam — ich meine, alle miteinander, oder jede für sich?«
»Jede für sich. Aber in den letzten Experimenten neigten sie zu Zusammenschlüssen.«
»Sind sie freundlich?«
Vergil verdrehte die Augen zur Decke. »Es sind Lymphozyten, Mutter. Sie leben nicht einmal in derselben Welt wie wir. Sie können nicht freundlich oder unfreundlich in der Weise sein, wie wir die Begriffe verstehen. Für sie besteht die Welt aus Chemikalien.«
»Wenn sie denken können, können sie etwas fühlen, wenn meine Lebenserfahrung etwas taugt. Es sei denn, sie wären wie Frank. Natürlich dachte er nicht viel, also hinkt der Vergleich.«
»Ich hatte nicht die Zeit, herauszufinden, wie sie sind, oder ob sie so viel Denkfähigkeit entwickeln wie… wie ihr Potential es erlaubt.«
»Was ist ihr Potential?«
»Bist du sicher, daß du das verstehst?«
»Hört es sich so an, als ob ich es verstünde?«
»Ja. Darum zweifle ich. Ich weiß nicht, was ihr Potential ist, aber es ist sehr groß.«
»Vergil, dein Wahnsinn hat immer Methode gehabt. Was hofftest du mit alledem zu gewinnen?«
Das stoppte ihn. Er sah keine Hoffnung, sich auf dieser Ebene — der Ebene von Errungenschaften und Zielen — mit seiner Mutter zu verständigen. Sie hatte sein Bedürfnis, etwas zu leisten, nie verstanden. Für sie erschöpften sich Ziele darin, daß man sich bemühte, mit den Nachbarn in Frieden zu leben. »Ich weiß nicht. Vielleicht nichts. Vergiß es!«
»Es ist vergessen. Wo wollen wir heute abend essen?«
»Laß uns marokkanisch essen«, sagte Vergil. »Also auf zum Bauchtanz!«
Von alledem, was er an seiner Mutter nicht verstand, war sein früheres Kinderzimmer der Gipfel. Spielzeug, Bett und Möbel, Poster an den Wänden — sein Zimmer war nicht in dem Zustand geblieben, in dem es sich befunden hatte, als er ausgezogen war, sondern in den Zustand zurückversetzt worden, in welchem es ihn als Zwölfjährigen beherbergt hatte. Die Bücher, die er damals gelesen hatte, waren aus den Kartons auf dem Speicher genommen worden und standen aufgereiht in Regalen des schmalen Bücherschranks, der einst ausgereicht hatte, seine Bibliothek aufzunehmen. Taschenbücher und Buchklubausgaben konkurrierten mit Comicheften und ein paar Büchern über Wissenschaften und Elektronik, die ihm damals viel bedeutet hatten.
Filmplakate — inzwischen unzweifelhaft sehr wertvoll — zeigten die jugendlichen Gesichter inzwischen angejahrter oder gar verblichener Schauspieler. Er hatte diese Plakate mit Neunzehn abgenommen, zusammengelegt und in einer Schublade verstaut. April hatte sie wieder an den Wänden befestigt, nachdem er sein Studium begonnen hatte.
Sie hatte sogar sein kariertes Bettzeug wiederbelebt. Das Bett selbst war abgenutzt und vertraut, lockte ihn in eine Kindheit, von der er nicht einmal sicher war, ob er sie je gehabt, geschweige denn, zurückgelassen hatte.
Er erinnerte sich seiner vorpubertären Jahre als einer Zeit beträchtlicher Ängste und Sorgen. Ängsten, daß er für den Weggang seines Vaters verantwortlich sei, daß er in der Schule nicht mitkommen würde, Sorge, daß seine Schulkameraden ihn nicht akzeptieren würden. Und gleichzeitig Begeisterung. Die schwindelnde, übergroße Freude, die er empfunden hatte, als er einen Streifen Papier halb gedreht, die Enden zusammengeklebt und sein erstes Möbiussches Band hergestellt hatte; seine Ameisenfarm und seine Chemiekästen; seine Entdeckung von zehn Jahrgängen des Scientific American in einer Abfalltonne in der Zufahrt hinter dem Haus.
Im Dunkeln, gerade als er am Rand des Schlafes war, begann ihn der Rücken zu jucken. Er kratzte sich mechanisch, dann setzte er sich mit einem gemurmelten Fluch im Bett auf, drehte den Saum der Schlafanzugjacke zu einer Rolle zusammen und zog diese mit beiden Händen kreuz und quer über den Rücken, um das Jucken zu lindern.
Als er die Hand zum Gesicht führte, fühlte es sich völlig unvertraut an, wie das Gesicht eines anderen — Höcker und Rücken, die Nase verlängert, wulstige Lippen. Doch als er mit der anderen Hand tastete, fühlte es sich normal an. Er rieb die Finger beider Hände aneinander. Das Tastempfinden war nicht richtig. Eine Hand war weitaus sensitiver als gewöhnlich, die andere beinahe taub.
Schweratmend stolperte er die Treppe hinauf zum Badezimmer und schaltete das Licht ein. Seine Brust juckte scheußlich. Zwischen seinen Zehen schien es von unsichtbaren Ameisen zu wimmeln. Seit er mit elf die Windpocken gehabt hatte, hatte er sich nicht mehr so elend gefühlt. In der gedankenleeren Konzentration auf seine Not streifte er den Schlafanzug ab und stellte sich unter die Dusche, um unter kaltem Wasser Erleichterung zu finden.
Das Wasser spritzte in einem schwachen Strahl aus den alten Leitungen und rieselte ihm über Kopf und Nacken, Schultern und Rücken. Dünne Rinnsale schlängelten sich über Brust und Beine abwärts. Beide Hände waren jetzt äußerst feinfühlig, und das Wasser schien in Nadeln zu kommen, erwärmend und dann abkühlend, brennend und dann erfrierend. Er streckte die Arme aus und hatte das Empfinden, die Luft selbst fühle sich klumpig an.
Er blieb fünfzehn Minuten lang unter der Dusche stehen, seufzte vor Erleichterung, als die Reizerscheinungen nachließen, rieb sich die juckenden Hautpartien mit den Handgelenken und Handrücken, bis sie gerötet waren. Seine Finger und Handflächen prickelten, und allmählich ließ das Prickeln nach und machte einem langsamen, pulsierenden Pochen wiederkehrender Normalität Platz.
Er trat aus der Dusche und trocknete sich ab, dann stand er nackt am Badezimmerfenster, fühlte die kühle Brise auf der Haut und lauschte den Grillen. »Gottverdammich«, sagte er langsam und ausdrucksvoll. Er wandte sich um und musterte sein Ebenbild im Badezimmerspiegel. Seine Brust war vom Kratzen und Reiben fleckig und gerötet. Er drehte sich um und versuchte, über die Schulter hinweg seinen Rücken zu sehen.
Von den Schultern bis zum Gesäß überzogen undeutliche blasse Streifen unter der Hautoberfläche wie eine verrückte und unwillkommene Straßenkarte seinen Rücken. Während er sie beobachtete, verblichen die Streifen allmählich, bis er sich fragte, ob sie überhaupt dagewesen waren.
Mit heftig pochendem Herzen setzte er sich auf den Deckel der Toilette, stützte das Kinn in beide Hände und starrte auf seine Füße. Allmählich bekam er es mit der Angst.