Er lachte kehlig glucksend.
»Haben sich die kleinen Teufelsdinger doch ans Werk gemacht, hm?« murmelte er zu sich selbst.
»Vergil, fehlt dir was?« fragte seine Mutter von der anderen Seite der Badezimmertür.
»Nein, ich fühle mich gut«, sagte er. Besser und besser, mit jedem Tag.
»Solange ich lebe und atme, werde ich die Männer nie verstehen«, sagte seine Mutter und goß sich eine weitere Tasse vom starken schwarzen Kaffee ein. »Immer herumbasteln, immer in Schwierigkeiten.«
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten, Mutter.« Es hörte sich nicht überzeugend an, nicht einmal in seinen eigenen Ohren.
»Nein?«
Er hob die Schultern. »Ich bin gesund, ich kann noch ein paar Monate ohne Arbeit durchkommen — und etwas muß sich schließlich finden.«
»Du suchst nicht einmal intensiv.«
Das traf zu. »Ich bin dabei, eine Depression zu überwinden.« Und das war eine unverfrorene Lüge.
»Dummes Zeug«, sagte seine Mutter. »Du hast in deinem Leben noch nie unter Depressionen gelitten. Du weißt nicht mal, was es bedeutet. Du solltest für ein paar Jahre eine Frau sein und selbst sehen, wie es ist.«
Die Morgensonne schien durch die Gardinen am Küchenfenster und füllte die Küche mit gedämpfter, freundlicher Wärme. »Manchmal benimmst du dich, als ob ich eine Ziegelmauer wäre«, sagte Vergil.
»Manchmal bist du so. Lieber Himmel, Vergil, du bist mein Sohn. Ich gab dir das Leben — ich glaube, wir können Franks Beitrag außer acht lassen —, und ich sehe dich seit zweiunddreißig Jahren älter werden. Du bist nie erwachsen geworden, und an Feingefühl hat es dir schon immer gefehlt. Du bist ein kluger Junge, aber du bist einfach nicht vollständig.«
»Und du«, sagte er mit einer Grimasse, »bist ein tiefer Quell von Hilfe und Verständnis.«
»Ärgere die alte Frau nicht, Vergil. Ich verstehe und sympathisiere, soviel du verdienst. Du sitzt tief in der Tinte, nicht wahr. Dieses Experiment.«
»Ich wünschte, du würdest nicht darauf herumreiten. Ich bin der Wissenschaftler, und ich bin der einzige Betroffene, und bisher…« Er klappte den Mund hörbar zu und verschränkte die Arme. Es war alles verrückt. Die Lymphozyten, die er sich injiziert hatte, waren jenseits allen Zweifels inzwischen abgestorben oder altersschwach. Sie waren unter Laborbedingungen verändert und in Reagenzgläsern gehalten worden, hatten wahrscheinlich einen ganz neuen Satz histokompatibler Antigene entwickelt und waren mit großer Wahrscheinlichkeit schon vor Wochen von ihren unveränderten Artgenossen angegriffen und verschlungen worden. Jede andere Annahme entbehrte der Vernunft. Was er letzte Nacht erlebt hatte, war einfach eine komplexe allergische Reaktion gewesen. Warum ausgerechnet er und seine Mutter die Möglichkeit diskutieren sollten…
»Vergil?«
»Es war schön bei dir, Mutter, aber ich glaube, es ist Zeit, daß ich gehe.«
»Wie lang hast du noch?«
Er stand auf und starrte sie erschrocken an. »Ich bin nicht am Sterben, Mutter.«
»Sein ganzes Leben lang hat mein Sohn für diesen höchsten Augenblick gearbeitet. Mir scheint, daß er gekommen ist, Vergil.«
»Das ist völlig verrückt.«
»Ich gebe zurück, was du mir gesagt hast, Junge. Ich bin kein Genie, aber ich bin auch keine Ziegelmauer. Du erzählst mir, du habest intelligente Keime gezüchtet, und ich sage dir, auch wenn du es nicht hören willst: Wer einmal eine Toilette gesäubert oder einen Abfalleimer mit Windeln gereinigt hat, würde vor der Idee, daß es Keime gibt, die denken können, zurückschrecken. Was geschieht, wenn sie aufsässig werden, Vergil? Sag das deiner alten Mutter.«
Es gab keine Antwort. Er war nicht einmal sicher, daß ihre Diskussion einen vernünftigen Gegenstand hatte; nichts ergab einen Sinn. Aber er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog.
Er hatte dieses Ritual früher schon zelebriert, war in Schwierigkeiten geraten und dann zu seiner Mutter gekommen, unbehaglich und unsicher, ohne recht zu wissen, von welcher Art seine Schwierigkeiten waren. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit schien sie jedesmal auf eine höhere Argumentationsebene zu springen und seine Probleme zu identifizieren und vor ihm auszubreiten, daß sie unausweichlich wurden. Dies war nicht ein Dienst, der seiner Liebe zu ihr förderlich war, aber er machte sie für ihn wertvoll.
Er beugte sich vor und tätschelte ihr die Hand. Sie drehte die Hand herum und ergriff die seine. »Du gehst jetzt«, sagte sie.
»Ja.«
»Wie lang haben wir noch, Vergil?«
»Was?« Er konnte es nicht verstehen, aber auf einmal füllten sich seine Augen mit Tränen, und er begann zu zittern.
»Komm zurück zu mir, wenn du kannst!« sagte sie.
Entsetzt ergriff er seinen Koffer — am Vorabend gepackt — und rannte die Stufen runter zum Volvo, riß den Kofferraum auf und warf ihn hinein. Er lief um den Wagen und stieß sich das Knie an der hinteren Stoßstange. Schmerz fuhr stechend durch das Bein, ließ dann rasch nach. Er stieg ein und startete den Motor.
Seine Mutter stand auf der überdachten Veranda. Ihr seidenes Gewand wehte in der leichten Morgenbrise, und Vergil winkte ihr zu, als er anfuhr. Normalität. Wink deiner Mutter zu! Fahre davon!
Fahre davon, mit dem Wissen, daß dein Vater niemals existierte und daß deine Mutter eine Hexe war, und was das aus dir machte.
Er schüttelte den Kopf, bis ihm die Ohren dröhnten, und brachte es irgendwie fertig, den Wagen auf geradem Kurs zu halten.
Ein weißer Striemen zog sich über den linken Handrücken, wie ein mit Pflanzenschleim auf die Haut geklebter Faden.
8
Ein seltenes Sommerunwetter hatte den Himmel voller Wolkenfetzen, die Luft kühl und Regentropfen an den Fenstern der Wohnung zurückgelassen. Aus vier Blocks Entfernung war die Brandung zu hören, ein dumpfes, von Zischen überlagertes Grollen. Vergil saß vor seinem Computer, einen Handballen am Rand der Tastatur, den Finger in der Schwebe. Auf den Videoschirm war ein sich windendes, in Entwicklung befindliches DNS-Molekül zu sehen, umgeben von einem Proteinschleier. Flackernde Abtrennungen von den Phosphat- Zucker-Gerüsten der Doppelspirale ließen auf ein schnelles Eindringen von Enzymen schließen, die chemische Umsetzungen katalytisch steuerten. Zahlenkolonnen zogen am unteren Rand über den Bildschirm. Er beobachtete sie mit geteilter Aufmerksamkeit.
Er mußte bald mit jemandem sprechen — jemand anderem als seiner Mutter oder gar Candice. Die letztere war eine Woche nach seiner Rückkehr vom Besuch bei seiner Mutter bei ihm eingezogen, allem Anschein nach eifrig um Häuslichkeit bemüht, denn sie säuberte die Wohnung, räumte auf und bereitete seine Mahlzeiten.
Manchmal kauften sie zusammen ein, und das war erfreulich. Candice machte es Spaß, Vergil bei der Auswahl besserer Kleidungsstücke zu helfen, und er ging auf ihre Vorstellungen ein, obwohl die Erwerbungen sein bereits zusammengeschmolzenes Bankkonto weiter auszehrten.
Wenn sie ihn nach Dingen fragte, die sie beunruhigten, antwortete er mit Stillschweigen. Und sie wunderte sich, weshalb er darauf bestand, daß sie im Dunkeln miteinander schliefen.
Sie schlug vor, daß sie zum Strand gingen, aber Vergil erhob Einwände.
Sie beunruhigte sich, daß er viel Zeit unter den neuen Bestrahlungslampen verbrachte, die er gekauft hatte.
»Vergil?« Candice stand in der Schlafzimmertür, eingehüllt in einen Frotteebademantel mit Rosenmuster. »Wir wollten zum Tierpark hinauffahren, erinnerst du dich?«
Er hob einen Finger zum Mund und kaute am Nagel, er schien sie nicht zu hören.
»Vergil?«
»Ich fühle mich nicht allzu gut.«
»Weil du nie hinausgehst, deshalb.«
»Tatsächlich fühle ich mich ganz gut«, sagte er und wandte sich auf dem Stuhl um. Er schaute sie an, gab aber keine weitere Erklärung.