Um zehn Uhr abends kam Vergil ins Krankenhaus und traf Edward am verabredeten Seiteneingang des Flügels, den die Schwestern den Frankenstein-Flügel nannten. Edward saß auf einem orangefarbenen Plastikstuhl und las in einer Zeitschrift, als Vergil mit besorgter und ratloser Miene den kleinen Vorraum betrat. Die Fluoreszenzlampen verfärbten seine Haut olivgelb.
Edward bedeutete der Nachtschwester, daß dies sein Patient sei, und führte Vergil mit der Hand am Ellbogen zum Untersuchungsbereich. Keiner von beiden sprach viel. Vergil zog sich aus, und Edward arrangierte ihn auf dem mit Papier bedeckten gepolsterten Tisch. »Deine Knöchel sind geschwollen«, sagte er und befühlte sie. Sie waren fest, nicht schwammig. Gesund, aber sonderbar. »Hm«, machte Edward und schaute Vergil an. Der hob die Brauen und erwiderte den Blick mit einem Ausdruck, der »Du hast noch nichts gesehen« besagte.
»Gut, ich werde mehrere Untersuchungen vornehmen und die Ergebnisse in einer Computersimulation kombinieren. Ultraschall zuerst.« Edward führte paddelähnliche Impulsgeber über Vergils ruhende Gestalt, um die Teile zu erreichen, die für das größere Gerät schwierig aufzuzeichnen waren. Dann schwang er den Tisch herum und schob ihn in die emaillierte Öffnung der Ultraschalldiagnostik-Einheit — das ›Summloch‹, wie die Schwestern es nannten. Nach zwölf separaten Durchgängen von Kopf bis Fuß zog er den Tisch wieder heraus. Vergil hatte die Augen geschlossen und schwitzte leicht.
»Klaustrophobische Empfindungen?« fragte Edward.
»Nicht sehr.«
»Radiochromatographie ist ein wenig unangenehmer.«
»Nur voran, MacDuff!«
Die Radiochromatographie-Einheit war ein imponierender Kasten aus Chrom und himmelblauen Kunststoffoberflächen, der einen kleinen Raum einnahm. Es gab kaum genug Platz, den Tisch hineinzufahren. »Ich bin kein Fachmann mit diesem Gerät, also kann es eine Weile dauern«, sagte Edward, als er Vergil in die Höhlung half.
»Erklärt die Kostenexplosion im Gesundheitswesen«, murmelte Vergil und schloß die Augen, als Edward die Glasluke schloß. Der massive Magnet, der die Höhlung umgab, summte leise. Edward gab die Anweisung ein, alle Daten an das zentrale Bildschirmgerät im Nebenraum weiterzuleiten, und half Vergil wieder heraus.
»War es auszuhalten?« fragte Edward.
»Courage«, sagte Vergil in französischer Aussprache.
Im Nebenraum programmierte Edward die Integration und Darstellung der Daten auf einem großen Bildschirmgerät. Im Halbdunkeln dauerte es ein paar Sekunden, bis erkennbare Umrisse entstanden.
»Zuerst dein Skelett«, sagte Edward. Seine Augen weiteten sich, als die Wiedergabe erschien. Von dort ausgehend, zeigte der Bildschirm sodann Vergils innere Organe, die Muskulatur und zuletzt Blutgefäße und Haut.
»Wie lang ist der Unfall her?« fragte Edward und trat näher zum Bildschirm. Es gelang ihm nicht, das Beben seiner Stimme ganz zu unterdrücken.
»Ich war nie in einen Unfall verwickelt«, sagte Vergil.
»Mein Gott, sie haben dich geschlagen, um Geheimnisse zu bewahren?«
»Du verstehst mich nicht, Edward. Sieh dir die Darstellungen genauer an! Das sind keine traumatischen Verletzungen.«
»Sieh mal, da ist eine Verdickung.« Er zeigte zu den Knöcheln. »Und deine Rippen — diese verrückten Zickzackverschränkungen. Offensichtlich irgendwo gebrochen und…«
»Sehen wir uns mein Rückgrat an«, schlug Vergil vor. Edward ließ die Abbildung auf dem Schirm langsam rotieren.
Sofort kamen ihnen die aus Tetraedern und Oktaedern zusammengesetzten Konstruktionen des Architekten Buckminster Fuller in den Sinn. Es war phantastisch. Vergils Rückgrat war ein Gebilde aus dreieckigen Knochenstrukturen, die sich in einer Art und Weise verbanden, die Edward nicht einmal genau erfassen, geschweige denn verstehen konnte. »Darf ich mal fühlen?«
Vergil nickte, und Edward befühlte ihm den Rücken mit den Fingerspitzen. Vergil hob die Arme und blickte zur Decke auf.
»Ich kann es nicht ertasten«, sagte Edward. »Es ist glatt. Es besteht eine gewisse Flexibilität; je fester ich drücke, desto zäher wird es.« Er ging um Vergil herum, die Hand um das Kinn gelegt. »Du hast keine Brustwarzen«, sagte er. Es gab winzige Pigmentflecken, aber sonst nichts.
»Siehst du?« sagte Vergil. »Ich werde von innen nach außen umgebaut.«
»Dummes Zeug«, erwiderte Edward.
Vergil blickte überrascht. »Du kannst nicht leugnen, was deine Augen dir zeigen«, sagte er. »Ich bin nicht derselbe, der ich vor vier Monaten war.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Edward spielte mit den Bildern herum, ließ sie rotieren, nahm sich die verschiedenen inneren Organe vor und spielte den Film der Computersimulation vorwärts und rückwärts.
»Hast du jemals etwas wie mich gesehen? Ich meine, die neue Konstruktion.«
»Nein.« Edward ging zur Tür und blieb dort stehen, die Hände in den Taschen des weißen Kittels. »Was, zum Teufel, hast du getan?«
Vergil erzählte es ihm. Die Geschichte kam in sich erweiternden Spiralen von Tatsachen und Ereignissen aus ihm heraus, und Edward mußte sich durch die Abschweifungen den Weg suchen, so gut er konnte.
»Wie«, fragte er, »setzt du DNS in Lesen-Schreiben- Gedächtnis um?«
»Zuerst mußt du eine Länge viraler DNS finden, die für Topoisomerasen und Gyrasen codiert ist. Du hängst diesen Abschnitt an deine Ziel-DNS an und erleichterst die Senkung der Bindungszahl, um dein Zielmolekül negativ zu überspulen. In früheren Experimenten verwendete ich Äthidium, aber…«
»Einfacher bitte, ich habe seit Jahren nichts mit Molekularbiologie zu tun gehabt.«
»Du hast das Ziel, ohne allzu große Schwierigkeiten Längen von Eingabe-DNS hinzuzufügen und abzuziehen, und das bewirkt die Anordnung der Enzym-Rückkoppelung. Ist sie vorhanden, öffnet sich das Molekül viel leichter und rascher für eine Transkription. Dein Programm wird auf zwei RNS- Ketten übertragen. Eine geht zum Leser — einem Ribosom —, um in ein Protein umgesetzt zu werden. Die erste RNS trägt gewöhnlich einen einfachen Startercode…«
Edward stand bei der Tür und hörte eine halbe Stunde lang zu. Als Vergil nach Ablauf dieser Zeit durch nichts zu erkennen gab, daß er zum Ende käme oder gar aufhören wollte, hob er die Hand. »Und wie führt dies alles zu Intelligenz?«
Vergil zog die Stirn in Falten. »Ich weiß es noch nicht genau. Es fing damit an, daß ich die Replikation von ›Logik- Schaltungen‹ immer einfacher fand. Die Genomen schienen sich dem Prozeß bereitwillig zu öffnen. Es gab sogar Teile, von denen ich schwören möchte, daß sie bereits für spezifische logische Aufgaben verschlüsselt waren — aber zu der Zeit dachte ich, sie wären einfach normale Intronen, Sequenzen, die nicht für Proteine verschlüsselt sind, Überbleibsel von alten fehlerhaften Transkriptionen, von der Evolution noch nicht eliminiert. Ich spreche jetzt von den Eukarioten. Prokartionen haben keine Intronen. Aber in den letzten Monaten habe ich nachgedacht. Hatte reichlich Zeit zum Nachdenken, ohne Arbeit.«
Er brach ab und schüttelte den Kopf, steckte die Finger ineinander und drehte sie hin und her.
»Und?«
»Es ist sehr seltsam, Edward. Schon in den Anfangssemestern haben wir von den ›egoistischen Genen‹ gelernt, und daß Individuen und Populationen keine andere Funktion haben als die Erzeugung weiterer Gene ihrer Art. Aus Eiern werden Hühner, um mehr Eier zu machen. Und man schien zu denken, daß die Intronen bloß Gene seien, die keinen anderen Zweck hätten, als sich selbst innerhalb der Zelle zu reproduzieren. Alle Welt war sich darin einig, daß sie überflüssig wären, nutzlos. Ich hatte keinerlei Bedenken, mit Intronen zu arbeiten. Sie waren Ersatzteile, genetisch unfruchtbar. Ich konnte bauen, was ich wollte.« Wieder brach er ab, aber Edward blieb still. Vergil blickte mit feuchten Augen zu ihm auf. »Ich war nicht verantwortlich, ich wurde verführt.«