»Das hört sich nicht nach einer Trivialität an, Michael.«
Bernard unterdrückte eine irrationale Aufwallung von Ungeduld. »Verglichen damit, ist alles andere trivial, Heinz.«
»Dann wird es geschehen. Wir können Sie wann erwarten?«
»Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, Danke, Heinz.«
Er hängt ein und blickte auf die Armbanduhr. Er bezweifelte, daß bei Genetron jemand die Größenordnung des Geschehens begriff. Selbst ihm fiel es schwer, sich eine zutreffende Vorstellung zu machen. Aber eins war klar: Sobald Harrison die Gesundheitsbehörden informierte, würde der nordamerikanische Kontinent innerhalb achtundvierzig Stunden unter Quarantäne gestellt — ob man in Regierungskreisen glaubte, was gesagt wurde, oder nicht. Die Schlüsselworte würden »Seuche« und »gentechnische Manipulation« sein. Alle in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen würden vollkommen gerechtfertigt sein, doch bezweifelte er, daß sie ausreichend sein würden. Dann wäre mit dem Einsatz drastischerer Mittel zu rechnen.
Er wollte nicht im Lande sein, wenn es geschah, andererseits wollte er nicht für die Weiterverbreitung der Gefahr verantwortlich sein. Also bot er sich dem modernsten pharmazeutischen Forschungsunternehmen Europas als Versuchsperson und Musterexemplar an.
Bernards Verstand arbeitete so, daß er niemals von schweren Zweifeln oder nachträglichen Sinnesänderungen geplagt war — jedenfalls nicht in seiner Arbeit. Befand er sich in einer Notlage oder schwierigen Situation, fiel ihm immer rechtzeitig eine Lösung ein, gewöhnlich die richtige. Die Reservelösungen warteten im Hintergrund seiner Gedanken, unbewußt und unaufdringlich, während er handelte. So war es immer im Operationssaal gewesen, und so war es jetzt. Er betrachtete diese Fähigkeit nicht ohne einigen Verdruß, ließ sie ihn doch bisweilen als eine Art Roboter erscheinen, selbstsicher und zuversichtlich jenseits aller Vernunft. Aber sie war für seinen Erfolg verantwortlich gewesen, hatte ihm zu seinem Ruf in der neurophysiologischen Forschung und der Achtung verholfen, die ihm von Professorenkollegen und Öffentlichkeit entgegengebracht wurde.
Er kehrte zurück in den Konferenzraum und nahm seine Aktentasche mit sich. Sein Wagen wartete auf dem Firmenparkplatz, wo der Chauffeur las oder mit einem Taschencomputer Schach spielte. »Wenn Sie mich brauchen, können Sie mich in meinem Büro erreichen«, sagte Bernard zu Harrison. Yng stand vor der leeren Wandtafel, die Hände auf dem Rücken.
»Ich habe eben die Gesundheitsbehörde angerufen«, sagte Harrison. »Man wird uns Instruktionen geben.«
Bald würde jedes Krankenhaus in der Gegend unterrichtet sein. Wie lange würde es dauern, bis sie die Schließung der Flughäfen anordneten? Wie effizient waren sie? »Lassen Sie mich dann wissen, was angeordnet wird«, sagte Bernard. Er ging hinaus und überlegte flüchtig, ob er noch etwas mitnehmen mußte. Vermutlich nicht. Er hatte Kopien von Ulams Floppy Discettes in seiner Aktentasche. Und er hatte Ulams Organismen in seinem Blut.
Das würde sicherlich ausreichen, ihn einstweilen zu beschäftigen.
Leute? Gab es welche, die er warnen sollte?
Eine seiner drei Exfrauen? Er wußte nicht einmal, wo sie jetzt lebten. Seine Buchhalterin schickte ihnen die Alimentenschecks. Es gab keine praktische Möglichkeit…
Einen Menschen, an dem ihm wirklich lag? Dem auch er etwas bedeutete?
Er hatte Paulette zuletzt im März gesehen. Der Abschied war freundschaftlich gewesen. Alles war freundschaftlich gewesen. Sie waren umeinander gekreist wie Mond und Erde, ohne sich wirklich nahezukommen. Paulette hatte Einwände dagegen erhoben, der Mond zu sein, und völlig zu Recht. Sie hatte es in ihrer eigenen Karriere weit gebracht und war Leiterin der Abteilung Zytotechnologie in der Cetus Corporation in Palo Alto.
Nun, da er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß es wahrscheinlich diejenige gewesen war, die Harrison von der Genetron seinen Namen empfohlen hatte. Nach ihrer Trennung. Ohne Zweifel hatte sie gedacht, sie sei sehr großzügig, und objektiv, indem sie allen Beteiligten half.
Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Aber es gab nichts in ihm, was ihn drängte, sie anzurufen, zu warnen.
Es war einfach nicht praktisch.
Von seinem Sohn hatte er seit fünf Jahren nichts gehört. Er war mit einem Forschungsauftrag irgendwo in China.
Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf.
Vielleicht brauche ich nicht einmal eine Isolationskammer, dachte er bei sich. Ich bin bereits stärker isoliert als mir bewußt war.
17
Sie waren dem Tode nahe. Innerhalb von Minuten war Edward zu schwach, sich zu bewegen. Er hörte, wie Gail seine Eltern anrief, verschiedene Krankenhäuser, ihre Schule. Sie war außer sich vor Angst, daß sie womöglich ihre Schüler infiziert hatte. Er stellte sich vor, wie die Nachricht sich in Windeseile ausbreitete. Die Panik. Aber Gail wurde bald langsamer, klagte über Schwindelgefühl und legte sich neben ihn aufs Bett.
Sie versuchte sich aufzurappeln, wie ein Pferd, das gestürzt ist und sich ein Bein gebrochen hat, wieder hochzukommen sucht, aber die Anstrengung war nutzlos.
Mit ihrer letzten Kraft kam sie zu ihm, und sie hielten einander in den Armen, schweißgebadet. Gails Augen waren geschlossen, ihr Gesicht hatte die Farbe von Talkum. Sie glich einem Leichnam in der Aussegnungskapelle. Eine Weile dachte Edward, sie sei tot, und krank wie er war, wütete er gegen sich selbst, haßte sich selbst, niedergedrückt von Schuldgefühlen wegen seiner Schwäche, seiner Langsamkeit, die Möglichkeiten zu verstehen. Dann kümmerte es ihn nicht länger. Er war zu schwach, mit den Augen zu zwinkern, also schloß er sie und wartete.
Ein Rhythmus war in seinen Armen, seinen Beinen. Mit jedem Pulsschlag durchwogte ihn eine Art Klang, als ob ein Orchester von Tausenden Musikern spielte, aber nicht im Gleichklang; als ob sie verschiedene Symphonien oder Sätze daraus gleichzeitig spielten. Musik im Blut. Die Empfindung wurde koordinierter; die Klangfolgen verloren sich schließlich in Stille, lösten sich auf in harmonische Pulsschläge.
Das Pochen seines eigenen Herzens.
Keiner von ihnen hatte ein Gefühl für den Ablauf der Zeit. Tage konnten vergangen sein, bevor er genug Kraft aufbrachte, zum Wasserhahn ins Badezimmer zu wanken. Er trank, bis sein Magen nicht mehr fassen konnte, und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Er hob ihren Kopf mit dem Arm, berührte Gails Lippen mit dem Rand des Glases. Sie nippte am Wasser. Ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen blutunterlaufen und die Pupillen umrandet mit gelblichen, körnigen Strukturen, aber ihre Haut hatte wieder etwas Farbe. »Wann werden wir sterben?« fragte sie, ihre Stimme ein mattes Krächzen. »Ich möchte dich festhalten, wenn wir sterben.«
Wenig später war er stark genug, ihr in die Küche zu helfen. Er schälte eine Orange und teilte sie mir ihr, er schmeckte den Zucker und den Saft und die Säure in der Kehle. »Wo sind alle?« fragte sie. »Ich rief Krankenhäuser und Freunde an. Wo sind sie?«
Die harmonische, orchestrale Empfindung kehrte wieder, die Herzschläge koordinierten sich zu rhythmischen Fragmenten, diese verschmolzen, gewannen eine Bedeutung, und auf einmal —
Tritt UNWOHLSEIN auf?
— Ja.
Er antwortete automatisch und gleichfalls in Gedanken, als hätte er den Austausch erwartet und sei bereit für ein langes Gespräch.
GEDULD. Es gibt Schwierigkeiten.
— Was? Ich verstehe nicht.
— »Immunreaktion«. »Konflikt«. Schwierigkeiten.
— Dann verlaßt uns! Geht fort!
Nicht möglich. Zu sehr INTEGRIERT.
Sie erholten sich nicht, nicht in dem Maße, daß sie von der Infektion frei gewesen wären. Jedes Gefühl wiederkehrender Freiheit war illusorisch. Sehr knapp und darauf beschränkt, was seine Kräfte zuließen, versuchte er Gail zu erklären, was sie seiner Meinung nach erlebten.