Sie stützte sich auf die Stuhllehne, stand auf und ging langsam und unsicher zum Fenster, wo sie auf wankenden Beinen stand und auf die Grünanlage und andere Reihen von Wohnhäusern hinausblickte. »Was ist mit den anderen Leuten?« fragte sie. »Haben die es auch? Sind sie deshalb nicht gekommen?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich bald.«
»Sind sie… die Krankheit? Spricht sie zu dir?«
Er nickte.
»Dann bin ich nicht verrückt.« Langsam tappte sie durch das Wohnzimmer. »Ich werde mich nicht mehr lange bewegen können«, sagte sie. »Wie ist es mit dir? Vielleicht sollten wir versuchen zu fliehen.«
Er nahm ihre Hand und schüttelte den Kopf. »Sie sind innen, inzwischen Teil von uns. Sie sind wir. Wohin könnten wir fliehen?«
»Dann möchte ich mit dir im Bett sein, wenn wir uns nicht mehr bewegen können. Und ich möchte, daß du die Arme um mich legst.«
Sie legten sich wieder aufs Bett und hielten einander in den Armen.
»Eddie…«
Es war das letzte Geräusch, das er hörte. Er versuchte zu widerstehen, aber Wellen des Friedens überrollten ihn, und er konnte nur erfahren. Er trieb auf einer weiten, blauvioletten See. Über der See wurde sein Körper auf eine scheinbar grenzenlose Fläche gezeichnet. Die Bemühungen der Noozyten wurden dort in einer Art Diagramm erfaßt, und er hatte keine Schwierigkeiten, ihren Fortschritt zu verstehen. Es war offensichtlich, daß sein Körper jetzt mehr Noozyt als Milligan war.
Was wird mit uns geschehen?
Nicht mehr BEWEGUNG.
— Sterben wir?
— Veränderung.
— Und wenn wir uns nicht verändern wollen?
— Kein SCHMERZ.
— Und Furcht? Ihr werdet uns nicht einmal erlauben, daß wir uns fürchten?
Die blauviolette See und das Diagramm lösten sich in warme Dunkelheit auf.
Er hatte viel Zeit, die Dinge zu durchdenken, aber nicht annähernd genug Information. War es dies, was Vergil erfahren hatte? Kein Wunder, daß er den Eindruck gemacht hatte, verrückt zu werden. Begraben in einer inneren Perspektive, weder an einem Ort noch an einem anderen. Er spürte eine Zunahme der Wärme, eine Nähe und zwingende Gegenwart.
— Edward…
— Gail? Ich kann dich hören — nein, nicht hören —
— Edward, ich sollte entsetzt sein. Ich möchte zornig sein, aber ich kann nicht.
Nicht notwendig.
— Geht fort! Edward, ich möchte mich wehren —
— Verlaßt uns, bitte, verlaßt uns!
GEDULD. Schwierigkeiten.
Sie verstummten und begnügten sich mit der Freude ihrer beiderseitigen Nähe und Gesellschaft. Was Edward nahebei spürte, war nicht Gails körperliche Gegenwart; nicht einmal sein eigenes Vorstellungsbild von ihrer Persönlichkeit, sondern etwas Überzeugenderes, mit allen Unvollkommenheiten und Details der Realität, aber nicht so, wie er sie bis dahin je erfahren hatte.
— Wieviel Zeit ist vergangen?
— Ich weiß es nicht. Frag sie! Keine Antwort.
— Haben sie es dir gesagt?
— Nein, ich glaube nicht, daß sie tatsächlich verstehen, zu uns zu sprechen… noch nicht. Vielleicht ist dies alles Halluzination. Vergil halluzinierte, und viel leicht imitiere ich bloß seine Fieberträume…
— Sag mir, wer wen halluziniert? Warte. Etwas kommt. Kannst du es sehen?
— Ich kann nichts sehen… aber ich fühle es.
— Beschreibe es mir!
— Ich kann nicht.
— Sieh mal, es tut etwas.
— Es ist schön.
— Es ist sehr… ich finde nicht, daß es beängstigend ist. Es ist jetzt näher.
Kein SCHMERZ. Kein SCHADEN. »Lernen« hier, »anpassen«.
Es war keine Halluzination, doch ließ es sich mit Worten nicht beschreiben. Edward wehrte sich nicht, als es über ihn kam.
— Was ist es?
— Es ist, wo wir einige Zeit sein werden, glaube ich.
— Bleib bei mir!
— Natürlich…
Auf einmal gab es eine Menge zu tun und vorzubereiten.
Edward und Gail wuchsen auf dem Bett zusammen, Substanz durchdrang ihre Kleider, die Haut verschmolz, wo sie einander umarmten, die Lippen, wo sie sich berührten.
18
Bernard war sehr stolz auf seine Falcon 10. Er hatte sie in Paris vom Präsidenten eines Computerherstellers erworben, der bankrott gegangen war. Er hatte die schnittige Düsenmaschine drei Jahre benutzt, hatte fliegen gelernt und innerhalb von drei Monaten nach einem »sitzenden Start«, wie sein Fluglehrer es ausgedrückt hatte, die Pilotenlizenz erworben. Liebevoll berührte er den Rand des schwarzen Armaturenbretts mit einem Finger, dann strich er mit dem Daumen über die eingelegte Holzverblendung. Sonderbar, daß von so vielen Dingen, die zurückblieben — und so viel Verlust — eine tote Maschine derartige Bedeutung gewinnen konnte. Freiheit, Prestige… In den nächsten Wochen, wenn er noch so viel Zeit hatte, würde es offensichtlich viele Veränderungen geben, auch jenseits des Physischen. Er würde sich mit seiner Schwäche, seiner Vergänglichkeit abfinden müssen.
Die Maschine war auf dem New Yorker La Guardia- Flughafen aufgetankt worden, ohne daß er das Cockpit verlassen hatte. Er hatte die Anweisungen über Funk durchgegeben, war zur Auftankanlage für Privatmaschinen gerollt und hatte die Triebwerke ausgeschaltet. Das Flughafenpersonal hatte seine Arbeit rasch und routiniert verrichtet, und er hatte mit der Flugkontrolle den Weiterflug verabredet. Nicht ein einziges Mal hatte er menschliche Haut berühren oder auch nur dieselbe Luft atmen müssen wie das Bodenpersonal.
In Reykjavik mußte er die Maschine verlassen und dem Auftanken selbst beiwohnen. Aber er trug einen Schal fest um Mund und Nase gewickelt und vergewisserte sich, daß er mit den bloßen Händen nichts berührte.
Auf dem Flug nach Deutschland schien sein Sinn sich aufzuklären — und wurde in seiner Selbstanalyse unbequem akut. Keine der Schlußfolgerungen, zu denen er gelangte, wollte ihm gefallen. Er versuchte, sie zu verdrängen, doch gab es im Cockpit wenig, was seine Aufmerksamkeit vollständig fesseln konnte, und die Bemerkungen und Selbstanklagen kehrten alle paar Minuten wieder, bis er den Autopiloten einschaltete und sie gewähren ließ.
Sehr bald würde er tot sein. Es war sicherlich eine edle Art der Selbstaufopferung, daß er sich Pharmek zur Verfügung stellte, und damit der Welt, die möglicherweise noch nicht kontaminiert war. Aber es konnte bei weitem nicht gutmachen, was er hatte geschehen lassen.
Wie hätte er es wissen können?
»Milligan wußte es«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Hol sie alle der Teufel!« Vor allem Vergil Ulam; aber war er Vergil nicht ähnlich? Nein, er weigerte sich, das zuzugeben. Vergil war ein kluger Kopf gewesen (er sah den geröteten, blasigen Körper in der Badewanne schwimmen, war gewesen war gewesen), aber unverantwortlich, blind für die Sicherheitsvorkehrungen, die er als Wissenschaftler schon beinahe instinktiv hätte ergreifen müssen. Wenn Ulam andererseits diese Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätte, wäre er niemals in der Lage gewesen, seine Arbeit zu vollenden.
Niemand hätte es erlaubt.
Und Michael Bernard kannte nur zu gut die Enttäuschung und Frustration, im Verfolg einer aussichtsreichen Forschungsarbeit behindert oder blockiert zu werden. Er hätte Tausende, die an der Parkinsonschen Krankheit litten, heilen können — wenn ihm nur erlaubt worden wäre, Gehirngewebe von abgetriebenen Embryonen zu sammeln. Statt dessen hatten die Leute mit und ohne Gesichter in ihrem moralischen Eifer nicht nur erreicht, daß er seine Versuche aufgeben mußte, sondern auch zugelassen, daß Tausende von Kranken weiterhin leiden mußten. Wie oft hatte er gewünscht, daß die junge Mary Shelley niemals ihr Buch geschrieben hätte, oder daß sie wenigstens darauf verzichtet hätte, einen deutschen Namen für ihren Wissenschaftler zu wählen. All die Verkettungen des frühen neunzehnten mit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die in den Gehirnen der Menschen zusammenliefen…