Ja, ja, und hatte er nicht soeben Ulam wegen seiner Brillanz verflucht, und war ihm nicht derselbe Vergleich in den Sinn gekommen?
Frankensteins Ungeheuer. Unvermeidlich. Langweilig offensichtlich.
Die Menschen fürchteten sich so sehr vor dem Neuen, vor Veränderung.
Und nun fürchtete auch er sich, obgleich er zugab, daß seine Furcht begründet war. Am besten gab er sich rational, stellte sich zum Studium zur Verfügung, ein unbeabsichtigtes Menschenopfer wie Dr. Louis Slotin 1946 in Los Alamos. Slotin und sieben andere, die an der Entwicklung der amerikanischen Atomrüstung mitgearbeitet hatten, waren durch einen Betriebsunfall einem jähen Ausbruch ionisierter Strahlung ausgesetzt worden. Slotin hatte die sieben anderen angewiesen, sich nicht zu bewegen. Dann hatte er Kreise um seine und ihre Füße gezogen, um anderen Wissenschaftlern brauchbare Daten über Entfernung von der Quelle und Strahlungsintensität zu geben, auf denen sie ihre Untersuchungen aufbauen konnten. Slotin war neun Tage später gestorben. Ein zweiter Beteiligter starb nach zwanzig Jahren an Komplikationen, die der Strahlung zugeschrieben wurden. Zwei weitere starben an akuter Leukämie.
Menschliche Versuchstiere. Selbstbeherrschter Slotin.
Hatten sie in jenen schrecklichen Augenblicken gewünscht, daß niemand jemals das Atom gespalten hätte?
Pharmek verfügte über eine eigene Landepiste zwei Kilometer entfernt von ihrem Forschungszentrum außerhalb Wiesbadens, um Geschäftsleute und Wissenschaftler aus aller Herren Länder zu empfangen und den Erhalt und die Verarbeitung von Pflanzen- und Bodenproben, die von Forschungsgruppen überall in der Welt eingesandt wurden, zu beschleunigen. Bernard kreiste in dreitausend Metern Höhe über dem Streifenmuster der Felder, Wiesen und Wälder, während das Morgengrauen den Osthimmel bleichte.
Er schaltete die Funkpeilung auf das automatische Landesystem und aktivierte zweimal das Mikrofon, um die Platzbeleuchtung einzuschalten. Der Landestreifen mit seinen Lichtern erschien unter ihm im trüben Grau des frühen Morgens. Ein Pfeil von Lichtern auf einer Seite zeigte die Windrichtung an.
Bernard folgte den Lichtern und Anweisungen des Landessystems, fühlte das Aufsetzen und Quietschen der Räder auf dem Beton der Landepiste, gefolgt von dumpf rumpelndem Ausrollen. Eine perfekte Landung, die letzte, die das schnittige Düsenflugzeug jemals machen würde.
Zur Linken konnte er einen großen weißen Lastwagen und Personal in Schutzanzügen sehen, die darauf warteten, daß er von der Piste auf einen Standplatz manövrierte. Sie ließen die Maschine nicht aus dem Lichtkegel eines Scheinwerfers. Er winkte aus dem Fenster und bedeutete ihnen zu bleiben, wo sie waren. Über den Bordfunk sagte er: »Ich brauche einen Schutzanzug ungefähr hundert Meter von der Maschine entfernt. Und der Wagen wird weitere hundert Meter jenseits stehen müssen.« Ein Mann, der auf dem Trittbrett des Fahrerhauses stand, hörte den Empfang mit und signalisierte ihn mit erhobenem Daumen. Ein Schutzanzug wurde am Rand der Landepiste niedergelegt, und der Lastwagen und das Personal vergrößerten ihre Distanz.
Bernard ließ die Triebwerke auslaufen, schaltete die Zündung aus und ließ nur die Innenbeleuchtung und das Treibstoff- Notabwurfsystem aktiviert. Darauf klemmte er seinen Aktenkoffer unter den Arm, trat in die Passagierkabine und nahm aus dem Gepäckabteil einen Aluminiumkanister mit Desinfektionsmittel. Mit einem tiefen Atemzug zog er sich eine Filtermaske aus Gummi über den Kopf und las die Instruktionen an der Seite des Kanisters. Der schwarze, zulaufende Stutzen war mit einem flexiblen Plastikschlauch und einer Messingarmatur versehen. Diese paßte genau auf das Ventil im Kanister und ließ sich festziehen. Den Schlauch in einer Hand und den Kanister in der anderen, kehrte er ins Cockpit zurück und besprühte Instrumente, Sitz, Boden und Decke, bis alles von der milchig grünen, giftigen Flüssigkeit troff. Dann ging er wieder in die Passagierkabine und besprühte alles, was er angefaßt hatte, und noch mehr. Als der Kanister leer war, schraubte er das Druckventil auf und legte den Kanister auf einen der ledergepolsterten Sitze. Auf einen Hebeldruck öffnete sich zischend die Luke und fuhr die Ausstiegstreppe aus.
Er befühlte die Hosentasche, um sich zu vergewissern, daß er die Leuchtpistole bei sich hatte, fühlte nach den sechs zusätzlichen Leuchtpatronen und stieg die Treppe hinunter auf den Beton der Piste. Ungefähr zehn Meter vor der hellrot lackierten Nase der Maschine stellte er den Aktenkoffer ab.
Schritt für Schritt machte er sodann die Maschine unbrauchbar. Zuerst öffnete und entleerte er die hydraulischen Systeme, dann schnitt er die Reifen auf und ließ die Luft heraus. Mit einer Axt schlug er das Fenster auf der Steuerbordseite ein, dann die drei Fenster der Passagierkabine backbords. Um sie zu erreichen, mußte er auf die Tragfläche klettern.
Dann ging er wieder an Bord und ins Cockpit, beugte sich über den vom Desinfektionsmittel durchnäßten Pilotensitz und zog die Schutzkappe vom Treibstoff-Notabwurfschalter. Mit einem scharfen Knacken gab der Schalter unter seinem Finger nach, und die Ventile öffneten sich. Eilig verließ er die Maschine, nahm den Aktenkoffer auf und rannte zu der Stelle, wo der graue und orangefarbene Schutzanzug auf dem Beton lag.
Die Techniker hatten keinen Versuch gemacht, sich einzumischen. Bernard zog die Leuchtpistole und ihre Patronen aus der Tasche, legte seine Kleider ab und zog den Schutzanzug über. Er knüllte die Kleidung zusammen, trug sie zu der sich ausbreitenden Kerosinpfütze unter der Maschine und warf sie hinein. Er kehrte zurück und öffnete den Aktenkoffer, nahm seinen Paß heraus und steckte ihn in einen Plastikbeutel. Dann hob er die Leuchtpistole.
Er zielte sorgfältig, hoffte, daß die Flugbahn nicht allzu stark gekrümmt sein würde, und feuerte eine Leuchtkugel auf den Gegenstand seiner Freude und seines Stolzes.
Das Kerosin geriet in Brand, und innerhalb von Sekunden war die Maschine in ein Inferno orangegelber Flammen und brodelnden schwarzen Qualms gehüllt. Bernard nahm seinen Aktenkoffer und ging auf den Lastwagen zu.
Ein Zollbeamter befand sich wahrscheinlich nicht unter den Anwesenden, aber um sich keiner Verletzung geltenden Rechts schuldig zu machen, hielt er den in Plastik gehüllten Paß in die Höhe und zeigte darauf. Ein Mann in einem ähnlichen Schutzanzug nahm ihn aus seiner Hand.
»Nichts zu verzollen«, sagte Bernard. Der Mann hob zum Zeichen, daß er verstanden hatte, die Hand an den Helm und trat zurück. »Sprühen Sie mich bitte ein!«
Er drehte sich im Schauer des Desinfektionsmittels, hob die Arme und abwechselnd die Beine. Als er die Stufen in den Isoliertank des Lastwagens erstieg, hörte er das leise Summen der Luftzirkulation und sah den violetten Schein ultravioletter Lampen. Die Tür schloß sich hinter ihm, hielt inne und sank dann mit einem leisen Seufzer in ihre luftdichte Versiegelung.
Während der Lastwagen auf einer schmalen Straße durch Wiesenland fuhr, spähte Bernard durch das dicke Glas eines seitlichen Fensters zurück zur Landepiste. Der Rumpf der Düsenmaschine war zu einem geschwärzten, verbogenen Skelett zusammengesunken. Noch immer loderten Flammen hoch in den Sommermorgen. Der Brand schien alles zu verzehren.
19
Heinz Paulsen-Fuchs beobachtete die auf dem Bildschirm seines Speichergerätes verzeichneten Anrufe. Es ging schon los. Nachfragen mehrerer Behörden lagen vor, darunter vom Bundesumweltamt, dem Bundesgesundheitsministerium und dem Hessischen Umweltministerium.
Alle Flüge nach und von den Vereinigten Staaten waren storniert. Er mußte damit rechnen, daß innerhalb der nächsten Stunden Beamte der zuständigen Behörden bei ihm erscheinen würden. Ehe sie eintrafen, mußte er Bernards Erklärung hören.
Nicht zum erstenmal in seinem Leben bedauerte er, einem Freund Hilfe geleistet zu haben. Es war nicht der geringste seiner Fehler. Einer der wichtigsten Industriellen im Nachkriegsdeutschland, und immer noch ein weichherziger Gefühlsmensch, der nicht nein sagen konnte.
Er zog einen transparenten Regenmantel über seinen gutsitzenden grauen Wollanzug und drückte eine Baskenmütze auf sein lockiges weißes Haar. Dann wartete er beim Eingang auf den regenbeperlten Citroen.
»Morgen, Uwe«, begrüßte er den Chauffeur, der ihm den Schlag öffnete. »Für Richard, wie versprochen.« Er beugte sich über den Sitz und gab Uwe drei Taschenbücher. Richard war der zwölfjährige Sohn des Chauffeurs und wie Paulsen- Fuchs ein Liebhaber von Kriminalromanen. »Fahren Sie noch schneller als sonst!«
»Sie werden mir vergeben, daß ich Sie nicht am Flugfeld abgeholt habe«, sagte Paulsen-Fuchs. »Ich war hier und bereitete mich auf Ihre Ankunft vor, und dann wurde ich abgerufen.
Es liegen bereits Nachfragen von Regierungsbehörden vor. Offensichtlich ist eine sehr ernste Entwicklung eingetreten. Sie sind darüber im Bilde?«
Bernard trat an die dicke Panzerglasscheibe des Fensters, das seinen isolierten Laboratoriumsbereich vom benachbarten Besuchszimmer trennte. Er hob die Hand, die von weißlichen Schwielen überzogen war und sagte: »Ich bin infiziert.«
Paulsen-Fuchs betrachtete Bernards Hand mit zusammengekniffenen Augen, dann sagte er: »Sie sind allem Anschein nach nicht der einzige, Michael. Was geschieht in Amerika?«
»Ich habe seit meinem Abflug nichts gehört.«
»Ihre Behörde für Seuchenkontrolle in Atlanta hat Seuchenalarm gegeben und verbreitet Verhaltensmaßnahmen für den Katastrophenfall. Alle nationalen und internationalen Flüge sind storniert. Gerüchte besagen, daß einige Städte von der Kommunikation mit der Außenwelt abgeschnitten seien. Es scheint ein rasch um sich greifendes Chaos zu herrschen. Nun, Sie kommen zu uns, verbrennen Ihre Maschine auf unserer Landepiste und vergewissern sich sehr gründlich, daß Sie das einzige von Ihrem Land sind, das in unserem überlebt — alles andere ist sterilisiert. Was für einen Reim sollen wir uns auf dies alles machen, Michael?«
»Heinz, es gibt mehrere Maßnahmen, die alle Länder augenblicklich ergreifen müssen. Sie müssen alle Reisenden, die in letzter Zeit aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko eingereist sind, unter Quarantäne stellen. Ich habe keine Ahnung, wie weit die Ansteckung sich ausbreiten wird, aber sie scheint sehr schnell voranzukommen.«
»Ja, unsere Regierung ist dabei, diese Maßnahmen zu ergreifen. Aber Sie kennen die Bürokratie…«
»Umgehen Sie die Bürokratie. Brechen Sie alle physikalischen Kontakte mit Nordamerika ab!«
»Ich kann das nicht einfach bewirken, indem ich Behauptungen aufstelle.«
»Heinz«, sagte Bernard, und wieder hob er die Hand vor die Scheibe, »ich habe vielleicht noch eine Woche, weniger, wenn das, was Sie sagen, zutrifft. Erklären Sie Ihrer Regierung, das dies mehr ist als bloß eine Panne in einem Labor. Ich habe alle wichtigen Aufzeichnungen in meinem Aktenkoffer. Sobald ich ein paar Stunden geschlafen habe, muß ich mit Ihren führenden Biologen sprechen. Bevor sie mit mir sprechen, möchte ich, daß Sie die Unterlagen sehen, die ich mitgebracht habe. Ich werde die Disketten hier in den Datenanschluß stecken. Viel mehr kann ich jetzt nicht sagen; wenn ich nicht bald schlafen kann, falle ich um.«
»In Ordnung, Michael.« Paulsen-Fuchs schaute ihn traurig an, das Gesicht von tiefen Sorgenfalten gefurcht. »Ist es etwas, womit wir als Möglichkeit rechnen konnten?«
Bernard überlegte einen Augenblick lang. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Um so schlimmer«, sagte Paulsen-Fuchs. »Ich werde die notwendigen Vorbereitungen treffen. Geben Sie Ihr Datenmaterial durch! Und schlafen Sie!« Paulsen-Fuchs ging, und das Licht im Besucherraum wurde ausgeschaltet.
Bernard schritt die drei mal drei Meter seines neuen Heimes ab. Das Labor war Anfang der achtziger Jahre für genetische Experimente eingerichtet worden, die damals als potentiell gefährlich angesehen wurden. Die gesamte innere Kammer war aufgehängt in einem Hochdrucktank; Brüche, Leckagen und Risse in der inneren Kammer führten dazu, daß Luft eindrang, nicht entwich. Der Drucktank konnte mit mehreren Desinfektionsmitteln besprüht werden und steckte in einer weiteren Stahlumhüllung, in der ein annäherndes Vakuum herrschte. Alle elektrischen Leitungen und mechanischen Systeme, die durch die Tanks verlaufen mußten, waren ummantelt und steckten in Desinfektionslösungen. Luft und Abfallmaterialien, die den Laborbereich verließen, wurden durch Hitze sterilisiert und verbrannt; alle dem Labor entnommenen Proben wurden in einem benachbarten Raum unter den gleichen Sicherheitsvorkehrungen verarbeitet oder weiterbehandelt. Bis das Problem gelöst oder er tot wäre, würde er von nun an nichts von Bernards Körper mit einem anderen Lebewesen außerhalb der Kammer in Berührung kommen.
Die Wände waren von einem neutralen Hellgrau; in Decke und Seitenwände eingelassene und verkleidete Leuchtstoffröhren verbreiteten Licht. Es konnte sowohl von innen wie auch von außen ein- und ausgeschaltet werden. Der Boden war schwarz gefliest. In der Mitte des Raums — deutlich sichtbar vom benachbarten Besucherraum — stand ein gewöhnlicher Schreibtisch mit einem Sessel, und auf dem Schreibtisch ein Datenanschluß mit Videoeinrichtung. Ein einfaches, aber bequem aussehendes Feldbett ohne Laken erwartete ihn in einer Ecke. Neben einer Klappe aus rostfreiem Stahl stand eine Stahlkommode. Ein großes, rechteckiges Feld in einer Wand markierte eine Luke für größere Gegenstände. Die Einrichtung wurde vervollständigt von einem Sessel und einer Duschkabine mit Plastikvorhang, die aussah, als sei sie in einem Stück aus einem Flugzeug oder einem Campingwagen ausgebaut worden.
Er nahm Hemd und Hose, die auf dem Feldbett für ihn bereitlagen, und befühlte das Material mit Daumen und Zeigefinger. Von nun an würde es keine Zurückgezogenheit geben. Er war keine Privatperson mehr. Bald würde man ihn untersuchen, Proben entnehmen, Hirnströme messen und ihn ganz allgemein wie ein Versuchskaninchen behandeln.
Gut so, dachte er, als er sich auf dem Feldbett ausstreckte. Ich verdiene es. Was immer jetzt geschieht, es geschieht mir recht. Mea culpa.
Bernard entspannte sich und schloß die Augen.
Sein Pulsschlag sang ihm in den Ohren.