Howards Jeans hingen vom Sitz des Hockers, der umgefallen war. Ein glänzendes blaßbraunes Laken hing von der Wand, bedeckte sie beinahe zur Gänze, war sauber in die Winkel eingefügt und zeigte eine kleine Ausbauchung, wo es einen gerahmten Druck bedeckte.
Sie nahm den Mop aus dem anderen Winkel hinter dem Kühlschrank und trat vor, den Stiel auf das Laken gerichtet. Ich bin unglaublich mutig, dachte sie bei sich. Zuerst stieß sie das Laken behutsam an, dann stieß sie den Besenstiel durch gegen die Wand. Das Laken zitterte, zeigte aber keine weitere Reaktion. »Ihr!« schrie sie und schwang den Besenstiel hin und her, zerfetzte das Laken in immer neuem Zustoßen von einer Ecke zu anderen. »Ihr!«
Als der größte Teil der Fetzen zu Boden gefallen und die Wand mit den Einkerbungen ihrer Stöße bedeckt war, ließ sie den Mop fallen und floh rasch aus der Küche.
Es war ein Uhr mittags, sagte die Schiffsuhr. Suzy kam wieder zu Atem, dann ging sie durch das Haus und schaltete die Lampen aus. Die wundersame Energie mochte länger währen, wenn sie sie nicht gleich aufbrauchte.
Sie zog ein Adressenverzeichnis unter dem Telefon im Hausgang hervor und legte eine Liste ihrer Vorräte und der Dinge an, die sie benötigen würde. Sie hatte noch mindestens fünf Stunden Tageslicht vor sich, oder jedenfalls Licht genug, um etwas zu sehen. Sie zog den Mantel über und ließ die äußere Tür zum Windfang hinter sich offen.
Unten auf der Straße, die gesäumt war von denselben abgestellten Wagen, zur Ecke, zum Lebensmittelgeschäft, ohne Geldbörse oder Geld, den Mantel über dem Pyjama und dem himmelblauen Bademantel; hinaus in die kopfstehende Welt, um zu sehen, was es zu sehen gab. Sie verspürte sogar eine unbestimmte Heiterkeit. Der Wind blies herbstlich kühl, und ein paar Blätter von den in Abständen die Straße begleitenden Bäumen raschelten über das Pflaster. Ranken von wildem Wein und Geißblatt schlangen sich durch die alten schmiedeeisernen Gartenzäune zwischen den Eingangsstufen, und auf den Simsen vor den Fenstern des ersten Stocks standen Blumentöpfe.
Mithridates’ Lebensmittelgeschäft war geschlossen, das Eisengitter vor dem Eingang zugesperrt. Sie spähte hindurch und überlegte, ob es einen anderen Weg hinein gäbe, und dachte an den Lieferanteneingang auf der anderen Seite. Dort stand die Tür angelehnt, ein schweres Ding aus schwarz lackiertem Metall, das sie nur unter Aufbietung aller Kräfte weiter aufstoßen konnte. Sie fühlte, wie die Tür gegen ein Hindernis stieß und ließ sie los und beobachtete sie einen Augenblick lang, um sich zu vergewissern, daß sie offen bleiben würde. Im Korridor stieg sie über einen weiteren Haufen Kleider, zu denen auch die Schürze des Krämers gehörte, und betrat das verlassene Geschäft durch die doppelte Pendeltür auf der rückwärtigen Seite.
Sie ging nach vorn und zog einen der Einkaufswagen heraus. An seinem Boden haftete noch ein sehr altes Salatblatt mit einem Kassenzettel. Sie rollte den holpernden Wagen durch die Gassen und nahm aus den Regalen, was sie für eine vernünftige Zusammenstellung von Lebensmitteln hielt. Ihre üblichen Eßgewohnheiten waren nicht die besten. Trotzdem hatte sie eine bessere Figur als die meisten der Diät- und Gesundheitskost-Fanatikerinnen, die sie kannte — ein Umstand, auf den sie nicht wenig stolz war.
Dosenschinken, Rindfleisch in Dosen, Hühnchen, Frischgemüse und Obst (die bald knapp sein würden, dachte sie), Obstkonserven, einen Kasten Mineralwasser, den sie auf das Untergestell des Wagens stellen konnte, Brot und ein paar etwas weiche Frühstückssemmeln, vier Literpackungen Milch aus dem noch gekühlten Fach für Milchprodukte. Eine Flasche Aspirin und etwas Shampoo, obwohl sie sich fragte, wie lange noch Wasser aus der Dusche kommen würde. Eine große Packung Vitaminbonbons. Sie versuchte, in den Drogerieregalen etwas zu finden, das abwehren könnte, was ihrer Familie geschehen war — und dem Postboten und dem Krämer und vielleicht allen anderen. Aufmerksam las sie die Aufschriften an Flaschen und Schachteln, aber nichts schien geeignet.
Dann schob sie den beladenen Wagen zur Registrierkasse, zwinkerte die verschlossene Tür jenseits davon an und drehte um. Nichts zu bezahlen. Sie hatte ohnehin kein Geld mitgebracht. Sie war auf halbem Weg zum rückwärtigen Ausgang, als ihr noch ein Gedanke in den Sinn kam, und sie ging zurück zur Registrierkasse.
Wo Gerüchte gesagt hatten, daß sie sein würde, nämlich auf einem Regal über dem Fach für Plastiktüten, lag ein großer und schwerer schwarzer Revolver mit einem langen Lauf. Sie fummelte damit herum, wobei sie achtgab, daß sie nicht auf sich selbst zielte, bis sie entdeckte, wie man die Trommel herausrollte. Die Waffe war mit sechs großen Patronen geladen.
Suzy hatte eine Abneigung gegen den Revolver. Ihr Vater besaß Schußwaffen, und anläßlich der wenigen Besuche, die sie bei ihm gemacht hatte, hatte er sie immer ermahnt, die Finger davon zu lassen. Aber Schußwaffen waren zum Schutz, nicht zum Spielen, und sie wollte nicht damit spielen, das war gewiß. Wie auch immer, sie bezweifelte, daß es etwas gab, was sie damit erschießen könnte.
»Man kann nie wissen«, sagte sie sich, steckte den Revolver in eine braune Papiertüte und legte sie in den Korb des Einkaufswagens, den sie zum rückwärtigen Eingang hinausrollte, über die leeren Kleider des Krämers hinweg und auf die Straße.
Sie verstaute die Lebensmittel im Hausgang und überlegte, ob sie die Milchpackungen in den Kühlschrank stellen sollte. »Wenn ich es nicht tue, werden sie nicht lange halten«, sagte sie sich in einem sehr praktischen Ton. »O Gott«, murmelte sie dann, und ein heftiges Schaudern überlief sie. Wenn sie die Augen schloß, sah sie jede Küche in jeder Wohnung in Brooklyn, gefüllt mit leeren Kleidern oder in Auflösung befindlichen Körpern mit röhrenartigen Auswüchsen hierhin und dorthin. Sie lehnte sich gegen das Treppengeländer und ließ den Kopf auf die Arme sinken. »Suzy, Suzy«, flüsterte sie. Dann holte sie tief Atem, richtete sich auf und nahm die Milchpackungen an sich. »Also los!« sagte sie mit erzwungener Munterkeit.
Das braune Laken war verschwunden, und nur die Dellen in der Wand kündeten von ihrem mutigen Kampf mit dem Besenstiel. Sie öffnete den Kühlschrank und legte die Milchpackungen in das untere Regal, dann schaute sie nach, was an Vorräten zum Mittagessen vorhanden war.
Die herumliegenden Kleider störten sie. Sie nahm den Besen und stieß das Kleid ihrer Mutter an, um zu sehen, ob unter den Falten etwas verborgen sei; — nichts. Mit Daumen und Zeigefinger hob sie das Kleid hoch. Der Schlüpfer fiel heraus, und unter seinem Rand schaute ein Tampon hervor, weiß und frisch. Beim Kragen des Kleides glänzte etwas am Boden, und sie bückte sich, um genauer hinzusehen. Kleine Klumpen von grauem und goldenem Metall, unregelmäßig geformt.
Die Antwort kam ihr allzu schnell in den Sinn, ausgedacht mit einer panikartigen Geistesgegenwart, die sie nicht gewohnt war.
Füllungen, Zahnfüllungen und Goldkronen.
Sie hob die Kleider auf und steckte sie alle in den Kasten für schmutzige Wäsche. Das wär’s also, dachte sie. Lebt wohl, Mutter und Kenneth und Howard!
Dann fegte sie den Boden, nahm die Füllungen und den Staub (keine toten Kakerlaken, was ungewöhnlich war) mit der Kehrschaufel auf und beförderte alles in den Abfalleimer neben dem Kühlschrank.
»Ich bin die einzige«, sagte sie, als sie fertig war. »Ich bin die einzige, die in Brooklyn übriggeblieben ist. Ich bin nicht krank geworden.« Sie stand am Tisch, einen Apfel in der Hand, und kaute gedankenvoll. »Warum?« fragte sie.
»Weil«, antwortete sie und wirbelte herum, daß kein verwunschener Winkel in der Küche ihrem Blick entgehen konnte, »weil ich so schön bin, und der Teufel mich zu seiner Frau machen möchte.«
21
»In den vergangenen vier Tagen«, sagte Paulsen-Fuchs, »sind die meisten Verbindungen mit dem nordamerikanischen Kontinent unterbrochen worden. Die Etiologie der Krankheit ist nicht genau bekannt, aber sie scheint jeden Vektor zu passieren, der den Epidemiologen bekannt ist, geht aber darüber hinaus. Mr. Bernards Unterlagen lassen erkennen, daß die Erreger oder Komponenten der Krankheit selbst intelligent und gelenkter Aktion fähig sind.«