»Vielleicht bin ich die letzte Frau auf Erden«, überlegte sie. »Ich muß praktisch denken.«
Der letzte Gegenstand, der in den am Fuß der Stufen auf dem Gehsteig wartenden Einkaufswagen kam, war das Transistorradio. Sie spielte es jeden Abend nur ein paar Minuten lang, und sie hatte bei Mithridates eine Schachtel Batterien mitgehen lassen. Das sollte für einige Zeit reichen.
Aus dem Radio hatte sie erfahren, daß die Leute sehr besorgt waren, nicht bloß wegen Brooklyn, sondern wegen der gesamten Vereinigten Staaten, bis zu den Grenzen, auch wegen Mexiko und Kanada. Kurzwellensendungen aus England verbreiteten sich über die Stille, die »Seuche«, über Flugreisende in Quarantäne, und über U-Boote und Flugzeuge, die die Küsten überwachten. Bisher sei noch kein Flugzeug in das Innere Nordamerikas vorgedrungen, sagte ein sehr distinguiert klingender britischer Kommentator, aber Satellitenaufnahmen, so hieß es, zeigten eine gelähmte, vielleicht tote Nation.
Ich nicht, dachte Suzy. Gelähmt bedeutet ohne Bewegung. »Ich werde mich bewegen. Kommt nur mit euren U-Booten und Flugzeugen und schaut mich an! Ich werde mich bewegen.«
Am Spätnachmittag schob sie den Einkaufswagen durch die Straßen. Nebel verhüllte die fernen Türme Manhattans und ließ nur die blasse Silhouette des World Trade Centers über weißlich graue Undurchsichtigkeit aufragen. Sie hatte noch nie so dichten Nebel auf dem East River gesehen.
Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie große braune und gelbliche Fetzen wie Segel oder Drachen im Wind über der Cadman Plaza schweben. Die Williamsburgh-Sparkasse war in ihrer ganzen Höhe von hundertfünfzig Metern in braune Laken eingehüllt, wie ein Wolkenkratzer, der als Paket verschickt werden soll. Sie hielt auf die Brückenrampe zu, als ihr der Gedanke kam, wie sehr sie einer der mit Plastikbeuteln behangenen obdachlosen Frauen ähneln mußte.
Sie hatte immer befürchtet, einmal obdachlos zu werden. Sie wußte, daß Leute mit Problemen wie den ihren bisweilen kein Dach über dem Kopf finden konnten und auf den Straßen lebten.
Jetzt fürchtete sie das nicht mehr. Alles war anders. Und der Gedanke weckte ihren Sinn für Humor. Eine Obdachlose in einer mit braunem Packpapier bedeckten Stadt. Es war sehr lustig, aber sie war zu müde, um darüber zu lachen.
Jede Art von Gesellschaft wäre ihr willkommen gewesen — Obdachlose, Katzen, Vögel. Aber außer den braunen Laken, die im Wind wehten, bewegte sich nichts.
Sie schob den Einkaufswagen die Flatbush Avenue hinauf, rastete auf der Bank einer Bushaltestelle, stand auf und ging weiter. Sie zog Kenneths dicke Jacke aus der Reisetasche und zog sie über; es wurde Abend, und die Lufttemperatur sank rasch. »Ich werde jetzt singen«, sagte sie sich. Ihr Kopf war voll von Rhythmen und Rockmusik, doch konnte sie keine Melodie finden. Sie zog den Einkaufswagen Stufe für Stufe zum Fußgängerweg der Brücke hinauf, wobei der Wagen schwankte und sein Unterbau über die Stufenkanten scharrte, und bei aller Anstrengung kam ihr plötzlich eine Melodie in den Sinn, und sie fing an, die Beatles-Nummer »Michelle« zu summen, eine Aufnahme aus einer Zeit, als sie noch nicht geboren war. »Michelle, ma belle«, war der einzige Teil des Textes, an den sie sich erinnerte, und den sang sie schnaufend zwischen angestrengtem Ein- und Ausatmen.
Nebel verhüllte den East River und ergoß sich über die Schnellstraße. Die Brücke erhob sich über den Nebel, eine Straße über den Wolken. Mutterseelenallein schob Suzy ihren Einkaufswagen den mittleren Gehweg entlang, hörte den Wind und ein unheimliches, tiefes Summen, das von den vibrierenden Trägerkabeln der Brücke herrühren mußte.
Da es keinen Verkehr auf der Brücke gab, hörte sie alle Arten von Geräuschen, die sie nie zuvor gehört hatte; metallisches Seufzen, leise und unterdrückt, aber sehr eindrucksvoll; das dumpfe Summen der armdicken Kabel; den fernen Gesang des Flusses; die tiefe Stille jenseits davon. Keine Schiffssirenen, keine Fahrzeuge, kein U-Bahn-Gerumpel. Keine plappernden, drängenden Menschen. Sie hätte geradesogut mitten in einer Wildnis sein können.
»Ein Pionier«, ermahnte sie sich. Dunkelheit lag überall, nur über New Jersey machte die Sonne mit einem Streifen gelblichgrünen Lichtes ihr endgültiges Testament. Der Gehweg über die Brücke war stockfinster. Sie blieb stehen und kauerte neben dem Einkaufswagen, wickelte Jacke und Mantel fester um sich, zog Stiefel und Wollsocken an. Mehrere Stunden saß sie in dumpfer Erstarrung neben dem Einkaufswagen, einen Fuß zwischen Chassis und Rad geklemmt, um ihn am Davonrollen zu hindern.
Die Geräusche des Flusses und der Brücke veränderten sich. Ihr Nackenhaar prickelte, obwohl sie keinen wirklichen Grund hatte, erschreckt zu sein. Dennoch glaubte sie zu spüren, daß etwas vorging, etwas Unbekanntes. Über ihr schimmerten die Sterne still und klar, und die Milchstraße leuchtete herab, völlig unbeeinträchtigt von verschmutzter Luft und all den Lichtern der Stadt.
Sie stand auf und reckte gähnend die Arme. Zu einem Gefühl von Furcht und Verlassenheit gesellte sich eine eigentümliche Hochstimmung. Sie überkletterte die Absperrung des Fußweges zur Gegenfahrbahn und ging zum Rand der Brücke. Dort umfaßte sie das Geländer mit behandschuhten, vor Kälte tauben Fingern und blickte über den East River zur South Street, dann ließ sie den Blick hinüber zu den Umrissen der Fährstationen schweifen.
Es war noch lange nicht Morgen, aber vom Fluß schien ein grüner und bläulicher Schimmer auszugehen, und wenn sie hinabschaute, war das Wasser voll von Augen und Feuerrädern und langsamen, gemessenen Ausbrüchen wie von unterseeischem Feuerwerk, alles funkelnd und schimmernd vor einem kobaltblauen Leuchten. Es war, als schaute sie auf ungezählte nächtliche Städte hinab, alle ineinander verschlungen und umeinander wirbelnd.
Der Fluß war lebendig, von Ufer zu Ufer und weiter als Governors Island, wo die Obere Bucht zu einer Art Milchstraße wurde. Der Fluß glomm und schimmerte, und jeder seiner Bestandteile hatte einen Sinn und einen Zweck; Suzy spürte es.
Sie erkannte, daß sie wie eine Ameise auf den Straßen einer großen Stadt war. Sie war die Verständnislose, die Begrenzte, die Vergängliche und Zerbrechliche. Der Fluß war unendlich vielfältiger und schöner als die abendliche Silhouette Manhattans.
»Ich werde das nie verstehen«, sagte sie, riß den Blick vom Wasser los, schüttelte den Kopf und schaute zu den dunklen Wolkenkratzern auf.
Einer von ihnen war nicht völlig dunkel. In den obersten Geschossen vom Südturm des World Trade Centers flackerte grünlicher Lichtschein. »He«, sagte sie bei sich. Dieser Lichtschein verwunderte sie mehr als alles andere. Sie stieß sich vom Geländer ab und kehrte zu ihrem Einkaufswagen auf dem Fußgängerüberweg zurück. Alles sehr schön, dachte sie, aber wichtiger war es, nicht zu erfrieren und in Bewegung zu bleiben, bis der Morgen käme und es hell genug wäre, bei Tageslicht zu sehen.
»Ich werde nachsehen, was in dem Gebäude ist«, sagte sie. »Vielleicht ist es jemand wie ich, jemand, der klüger ist und sich mit Elektrizität auskennt. Morgen früh werde ich hingehen und nachsehen.«
Kurz darauf stieß sie auf den dunklen Umriß eines Zeltes, das Straßenarbeiter bei Reparaturarbeiten im Kabelschacht unter dem Fußweg aufgestellt haben mußten. Dankbar kroch sie hinein, zog den Einkaufswagen zum Eingang und kauerte im Windschutz nieder, den Tag abzuwarten. Schlafend oder wachend, fröstelnd oder still, sie bildete sich ein, sie könne etwas vernehmen, was jenseits des Hörens lag: den Ton der Veränderung, der Seuche und des Flusses und der wehenden Laken, wie ein großer Kirchenchor, dessen Mitglieder die Münder weit aufgesperrt hatten und Stille sangen.
23
Paulsen-Fuchs zog einen Stuhl zum Zwischenfenster des Beobachtungsraumes und setzte sich. Bernard beobachtete ihn schläfrig vom Bett aus. »So früh am Morgen«, sagte er.