»Es ist Nachmittag. Ihr Zeitgefühl läßt nach.«
»Ich bin in einer Höhle, oder könnte es geradesogut sein. Keine Besucher heute?«
Paulsen-Fuchs schüttelte den Kopf, gab aber keine Erklärung.
»Neuigkeiten?«
»Die Russen sind aus den Vereinten Nationen ausgetreten. Offenbar sehen sie keinen Vorteil in einer solchen Organisation, wenn sie die einzige nukleare Supermacht auf Erden sind. Aber vor ihrem Austritt beantragten sie im Sicherheitsrat eine Erklärung, daß die Vereinigten Staaten eine Nation ohne Führung und eine Gefahr für den Rest der Welt sei.«
»Worauf zielt das ab?«
»Ich glaube, sie streben einen Beschluß an, der sie zu einem Atomschlag ermächtigt.«
»Großer Gott«, sagte Bernard. Er schwang die Beine aus dem Bett, richtete sich auf und blieb auf der Bettkante sitzen. Er betrachtete seine Handrücken. Die Schwielen waren etwas zurückgegangen; die Quarzlampenbestrahlungen brachten wenigstens kosmetische Besserung. »Wurden Mexiko und Kanada erwähnt?«
»Bloß die Vereinigten Staaten. Sie wollen dem Leichnam noch einen Fußtritt versetzen.«
»Und was sagen oder tun alle anderen?«
»Die amerikanischen Streitkräfte in Europa versuchen, eine Interimsregierung zu bilden. Ein Senator aus Kalifornien, der sich gerade auf einer Auslandsreise befand, soll zum neuen Präsidenten gewählt werden. Die Luftwaffenoffiziere der hiesigen Stützpunkte haben sich allerdings dagegen ausgesprochen. Sie sind der Meinung, die US-Regierung sollte einstweilen von Militärs gebildet werden. Diplomatische Vertretungen sollen in den Dienst der neuen Regierung gestellt werden. Das Problem ist, daß kein Geld da ist. Die Russen verlangen, daß amerikanische Schiffe und U-Boote spezielle Quarantänehäfen auf Kuba und entlang der russischen Pazifikküste anlaufen sollen, um entseucht zu werden.«
»Tun sie es?«
»Keine Antwort. Ich glaube es jedoch nicht.«
»Gibt es Neuigkeiten über die Vogelmorde?«
»Ja. In England töten sie alle Zugvögel, ganz gleich, woher sie kommen. Einige Gruppen wollen sogar alle Vögel unterschiedslos töten. Es gibt viel Barbarei, und nicht nur gegen Tiere, Michael. Amerikaner sind in aller Welt schimpflicher Behandlung ausgesetzt, selbst wenn sie seit Jahrzehnten in Europa leben. Religiöse Wirrköpfe verbreiten, Christus sei in Amerika wiedergekehrt und schicke sich an, nach Europa zu ziehen und das Zeitalter des Glücks und Friedens einzuleiten. Aber Sie werden Ihre Nachrichten wie gewöhnlich über den Datenanschluß bekommen. Dort können Sie alles nachlesen.«
»Es ist bestimmt besser, wenn es von einem Freund kommt.«
»Ja«, sagte Paulsen-Fuchs, »aber selbst die Worte eines Freundes können die Nachrichten, wie sie heute sind, nicht verbessern.«
»Würde ein Atomschlag das Problem lösen? Ich bin kein Epidemiologe — ließe sich ein ganzer Kontinent wie Nordamerika tatsächlich sterilisieren?«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, und die Russen werden sich dessen bewußt sein. Wir haben einiges über die Zielgenauigkeit ihrer Gefechtsköpfe gehört, über Blindgängerhäufigkeit und dergleichen. Sie könnten bestenfalls die Hälfte des Kontinents hinreichend ausbrennen, daß alle Lebensformen vernichtet werden. Das wäre so gut wie nutzlos. Und die Strahlungsgefahr — ganz zu schweigen von den meteorologischen Veränderungen und den Unberechenbarkeiten der Verbreitung intakter mikrobiologischer Organismen durch die Staubwolken wären enorm. Aber wir haben es mit Russen zu tun«, sagte er achselzuckend. »Sie können es nicht wissen, aber ich erinnere mich an die Kämpfe um Berlin und die Besetzung. Ich war damals noch ein Junge, aber ich erinnere mich an sie — stark, sentimental, grausam, schlau und dumm zugleich.«
Bernard hielt es nicht für opportun, das Verhalten der Deutschen in Rußland zu kommentieren. »Was also hält sie zurück?«
»Die NATO. Frankreich, überraschenderweise. Die energischen Einsprüche der meisten blockfreien Länder, insbesondere in Mittel- und Südamerika. Aber genug davon. Ich brauche einen Bericht.«
»Jawohl«, sagte Bernard und salutierte. »Ich fühle mich gut, wenn auch ein wenig benommen. Ich denke daran, verrückt zu werden und Lärm zu schlagen. Ich komme mir vor wie in einem Gefängnis.«
»Verständlich.«
»Noch keine weiblichen Freiwilligen?«
»Nein«, antwortete Paulsen-Fuchs, und fügte vollkommen ernst hinzu: »Ich verstehe es nicht. Es heißt immer, Ruhm sei das beste Aphrodisiakum.«
»Nun, auch gut. Wenn es ein Trost sein kann: seit vorgestern habe ich keine Veränderungen in meiner Anatomie bemerkt.«
Das war der Zeitpunkt, als die Schwielen auf seiner Haut sich zurückbildeten.
»Sie haben sich entschlossen, die Bestrahlung fortzusetzen?«
Bernard nickte. »Es gibt mir etwas zu tun.«
»Wir denken noch immer an Antimetaboliten und DNS- Polymerase-Inhibitoren. Die infizierten Tiere zeigen keine Symptome — anscheinend sind Ihre Noozyten über Tiere nicht sehr erfreut. Jedenfalls nicht hier. Es gibt verschiedene Theorien. Haben Sie Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, etwas von der Art, selbst, wenn sie Ihnen normal erscheinen mögen?«
»Ich habe mich nie im Leben besser gefühlt. Ich schlafe wie ein kleines Kind, das Essen schmeckt mir, keine Schmerzen oder Beschwerden. Ein gelegentliches Hautjucken. Ja, und manchmal juckt es innen, in meinem Bauch, aber es ist schwierig zu lokalisieren. Nicht sehr störend.«
»Ein Bild der Gesundheit«, sagte Paulsen-Fuchs, der mitgeschrieben hatte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir Ihre Aufrichtigkeit überprüfen?«
»Ich habe keine Wahl, nicht wahr?«
Sie untersuchten ihn zweimal täglich, so regelmäßig wie seine unberechenbaren Schlafperioden es gestatteten. Er unterzog sich allen Behandlungen und Untersuchungen mit grimmiger Geduld; das ungewohnte und störende Novum einer Untersuchung, die durch ferngesteuerte Mechanismen vorgenommen wurde, war längst zur Routine geworden.
Der große rechteckige Ausschnitt der Wandverkleidung öffnete sich summend, und ein Tablett, das Glasgegenstände und Werkzeug enthielt, schob sich vorwärts. Dann entfalteten sich vier lange Arme aus Metall und Plastik, deren Greifwerkzeuge sich versuchsweise öffneten und schlossen. In einer Kabine hinter den Armen stand eine Frau und beobachtete Bernard durch ein doppeltes Fenster aus Panzerglas. Eine Videokamera am Ellbogen eines der Arme drehte sich, und als sie Bernard im Visier hatte, glomm ein rotes Licht daran auf. »Guten Abend, Dr. Bernard«, sagte die Frau freundlich. Sie war jung, von strenger Attraktivität, mit rotbraunem Haar, das glatt zurückgekämmt und im Nacken aufgesteckt war.
»Ich liebe Sie, Dr. Schatz«, sagte er, als er sich auf den niedrigen Behandlungstisch legte, der unter den Greifarmen und dem Tablett vorgerollt war.
»Nur für Sie, und nur für heute, ich heiße Frieda. Wir lieben Sie auch, Doktor«, sagte sie. »Und ich an Ihrer Stelle würde mich überhaupt nicht lieben.«
»Diese Sache fängt an, mir zu gefallen, Frieda.«
»Hm.« Mit einem der Greifer nahm sie eine Vakuumampulle vom Tablett und lenkte die Nadel mit unglaublicher Geschicklichkeit in eine Ader, der sie zehn Kubikzentimeter Blut entnahm. Er bemerkte mit Interesse, daß das Blut purpurrosa war.
»Seien Sie vorsichtig, daß sie nicht zurückbeißen«, sagte er.
»Wir sind sehr vorsichtig, Doktor«, erwiderte sie. Bernard spürte Anspannung hinter der scherzhaften Fassade. Es konnte Verschiedenes geben, was sie ihm über seinen Zustand verschwiegen. Aber warum etwas verbergen? Er betrachtete sich bereits als einen zum Untergang Verurteilten.
»Sie sagen mir nicht alles, Frieda«, sagte er, als sie zur Hautuntersuchung einen Spezialklebestreifen an seinem Rücken anbrachte. Ein Greifer zog den sehr fest haftenden Streifen mit einem Ruck ab und ließ ihn in eine Glasschale fallen, der andere Arm verschloß die Schale und versiegelte sie in einem Bad aus flüssigem Wachs.