»Oh, ich finde, daß wir Ihnen nichts verschweigen«, antwortete sie, auf die Bedienung der Fernsteuerung konzentriert. »Welche Fragen haben Sie?«
»Gibt es in meinem Körper noch Zellen, die nicht umgewandelt worden sind?«
»Nicht alle sind Noozyten, Dr. Bernard, aber die meisten sind in der einen oder der anderen Weise verändert, ja.«
»Was geschieht mit ihnen, nachdem sie analysiert worden sind?«
»Zu dem Zeitpunkt sind sie alle tot, Doktor. Seien Sie unbesorgt. Wir sind sehr gründlich.«
»Ich bin nicht besorgt, Frieda.«
»Das ist gut. Nun drehen Sie sich bitte um.«
»Nicht wieder die Harnröhre.«
»Wie ich hörte, war dies einst ein sehr kostspieliger Genuß unter reichen jungen Herren zur Zeit der Weimarer Republik. Ein seltenes Erlebnis in den Bordellen von Berlin.«
»Frieda, Sie verblüffen mich immer wieder aufs neue.«
»Ja. Nun drehen Sie sich bitte um.« Er gehorchte und schloß die Augen.
24
Kerzen säumten das lange Fenster des Foyers. Suzy trat zurück und überblickte ihr Werk. Am Tag zuvor hatte sie sich durch eine vom Wind zerfetzte Strecke brauner Laken gekämpft und ein Kerzengeschäft gefunden. Mit einem zweiten Einkaufswagen, den sie bei einem armenischen Krämerladen in der South Street hatte mitgehen lassen, hatte sie eine Ladung Votivkerzen zum World Trade Center geschafft, wo sie im Erdgeschoß des südlichen Turms ihr Lager aufgeschlagen hatte. Im obersten Geschoß dieses Gebäudes hatte sie den grünen Lichtschein gesehen.
Mit all den Kerzen würden die U-Boote oder Flugzeuge sie vielleicht finden. Und es spielte noch ein Impuls dabei mit, der ihr freilich so albern vorkam, daß sie kichern mußte, wenn sie darüber nachdachte. Sie wollte dem Fluß Antwort geben. Sie stellte die Kerzen auf das Fensterbrett, zündete eine nach der anderen an und schaute zu, wie ihr warmer Lichtschein sich in der weiten Dunkelheit ringsum verlor.
Nun arrangierte sie die Kerzen in Spiralen am Boden, mußte aber die Abstände vergrößern, als ihr Vorrat zur Neige ging. Sie zündete die Kerzen an und ging von Flamme zu Flamme, lächelte ins Licht und verspürte vage Schuldgefühle, weil das tropfende Wachs den Teppichboden befleckte.
Sie aß einen Schokoladeriegel und las im Schein von fünf gebündelten Kerzen in einem Exemplar des Ladies Home Journal, das sie von einem Zeitungsstand mitgenommen hatte. Sie war ziemlich gut im Lesen — langsam, aber sie kannte viele von den Worten. Die Zeitschriftenseiten mit ihrer Überfülle von Anzeigen und schmalen Textspalten über Kleider und Kochen und Familienprobleme waren eine willkommene Anästhesie.
Sie lag auf dem Rücken auf dem Teppichboden, den Einkaufswagen mit den Lebensmitteln und den leeren Kerzenwagen in der Nähe, und fragte sich, ob sie jemals verheiratet sein würde — ob es jemanden zum Heiraten geben würde —, und ob sie jemals ein Haus haben würde, wo sie einige der Ratschläge würde anwenden können, die sie jetzt las. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie sich. »Von nun an werde ich mit Sicherheit eine alte Jungfer bleiben.« Sie war nie sehr viel mit Jungen ausgegangen, hatte auch ihrem Freund Cary nie alles gewährt und war mit dem Ruf von der Oberschule abgegangen, nett und hübsch, aber langweilig zu sein. Manche Leute wie sie waren abenteuerlustig und versuchten durch allerhand gewagte Dinge auszugleichen, daß sie nicht allzu helle waren.
»Jedenfalls bin ich immer noch da«, sagte sie zu der hohen dunklen Decke, »und ich bin immer noch langweilig.«
Sie trug die Zeitschrift die Stufen hinunter zum Zeitungsstand, die Kerze in einer Hand, und wählte als nächste Lektüre eine Nummer des Cosmopolitan aus. Wieder auf der Ebene des Foyers, schlief sie eine Weile, wachte erschrocken auf, als ihr die Zeitschrift raschelnd herunterrutschte, und ging von Kerze und Kerze und löschte sie für den Fall, daß sie den morgigen Abend wieder in ihrem Schein verbringen wollte. Dann legte sie sich auf die Seite, Kenneths Jacke als Kopfkissen zusammengelegt, eine Kerze noch brennend, und dachte an das gewaltige Gebäude über ihr. Sie konnte sich nicht erinnern, ob die Zwillingstürme noch immer die höchsten der Welt waren. Wahrscheinlich nicht. Jeder war wie ein Ozeandampfer, der aufgerichtet in die Erde gesteckt worden war — aber diese Türme waren höher als jeder Ozeandampfer lang war, behaupteten jedenfalls die an Touristen verteilten Prospekte.
Es würde Spaß machen, durch die Ladenstraße zu bummeln, doch selbst im Halbschlaf wußte sie, was sie schließlich würde tun müssen. Sie würde die Treppen bis zur Spitze ersteigen müssen, um herauszubringen, wer oder was den grünen Lichtschein verursachte, und über New York hinauszublicken — von diesem Aussichtspunkt würde sie die ganze Stadt und einen großen Teil der umliegenden Landschaft sehen können. Sie würde sehen, was geschehen war und was geschah. Und dort oben mochte der Radioempfänger mehr Sender empfangen. Außerdem gab es im obersten Geschoß ein Restaurant, und das bedeutete, mehr Lebensmittel. Außerdem eine Bar. Sie verspürte ein plötzliches Verlangen, sich zu betrinken, etwas, was sie bisher nur zweimal versucht hatte.
Einfach würde es nicht sein. Sie wußte, daß sie für das Ersteigen der Treppen einen Tag oder mehr benötigen würde.
Nach unbestimmter Zeit schreckte sie aus unruhigem Schlaf hoch. Etwas in der Nähe hatte ein Geräusch gemacht, ein quietschendes, gleitendes Scharren. Draußen stand grau und trübe der Morgen. Auf dem Platz herrschte Bewegung — Dinge rollten dort herum, wie Staubmäuse unter einem Bett. Sie zwinkerte und rieb sich die Augen, erhob sich auf die Knie und blinzelte, um besser zu sehen.
Federleichte Gebilde wie Wagenräder wurden vom Wind über den Platz getrieben, bald rotierend und mit flatternden Fetzen als Speichen, bald auf die Seite fallend und wieder hochgerissen. Sie waren grau und weiß und braun. Manche der zu Boden gefallenen blieben am Beton und Pflaster kleben, breiteten sich aus und reckten fußhohe Büschel empor. Als der Tag heller wurde, ergossen sie sich in großer Zahl über den Platz, wurden vom Wind gegen die Glaswände getrieben und hafteten dort wie schmierige Algen, um sich weiter auszubreiten.
An ein Verlassen des Gebäudes war unter diesen Umständen nicht zu denken. Sie aß einen Riegel Schokolade und schaltete das Radio ein, um vielleicht den Britischen Sender zu empfangen, den sie am Vortag gehört hatte. Nach der Feineinstellung ertönte eine schwache, von Schwund immer wieder unterbrochene Stimme aus dem Lautsprecher, wie ein Mann, der durch eine Filzmatte sprach.
»… zu sagen, daß die Weltwirtschaft leiden wird, ist sicherlich sehr zurückhaltend ausgedrückt. Mit Nordamerika ist nicht nur einer der größten Absatzmärkte verloren gegangen, sondern auch die größte Konzentration von Wirtschaftskapital. Es ist klar, daß die meisten Menschen sich heutzutage mehr um ihr unmittelbares Überleben sorgen und sich fragen, ob und wann die Seuche den Ozean überqueren wird, oder ob sie bereits unter uns ist und sich Zeit läßt…« — Störgeräusche verdrängten die schwindende Stimme für mehrere Minuten. Suzy saß mit gekreuzten Beinen neben dem Radio und wartete geduldig. Sie verstand nicht viel, aber die Stimme war tröstlich — »… die Sorge der Wirtschaftsfachleute gilt jedoch der Zeit nach der Krise. Vorausgesetzt, sie geht vorüber. Nun, ich denke, es gibt Anlaß zu begründetem Optimismus. Ein gläubiger Mensch wird sagen, daß Gott in seiner Weisheit Gründe für dies alles hat, doch werden sich nicht alle mit solch einer Erklärung zufriedengeben. Eine drastische Schrumpfung des Welthandels ist bereits eingetreten, die Investitionsbereitschaft hat überall einer abwartenden Haltung Platz gemacht. Trotzdem ist meines Erachtens nicht zwangsläufig mit einer Weltwirtschaftskrise größten Ausmaßes zu rechnen. Mit Ausnahme der berühmt gewordenen meteorologischen Station auf der Insel Afognak gibt es keine Kommunikation aus dem gesamten nordamerikanischen Raum, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Nordamerika als Wirtschaftsfaktor endgültig ausgefallen ist. Die Finanziers sind tot. Die Vereinigten Staaten waren immer die große Bastion des privaten Kapitals. Eine Umorientierung wird zwangsläufig erfolgen. Rußland ist jetzt die beherrschende Weltmacht, militärisch und über kurz oder lang vielleicht auch finanziell. Was können wir erwarten?«