Jerry holte dreimal in rascher Folge mit der Spitzhacke aus, und ein Loch von fast einem Meter Durchmesser brach ein. Die Brüder sprangen zurück, dann zogen sie sich vorsichtshalber noch einmal mehrere Schritte zurück. Der Rest des Hügels hielt. Jerry ließ sich auf alle viere nieder und kroch zum Loch hinauf. »Kann noch immer nichts sehen«, sagte er. »Geh und hol die Lampe!«
Es wurde dunkel, als John mit einer großen, wasserdichten Batterielampe von ihrem Lastwagen zurückkam. Jerry saß beim Loch, rauchte eine Zigarette und schnippte die Asche hinein. »Hab auch ein Seil mitgebracht«, sagte John und warf die Rolle neben seines Bruders Knie.
»Wie sieht die Stadt aus?« fragte Jerry.
»Soviel ich sehen konnte, genauso wie vorher, nur noch mehr so.«
»Wird morgen noch was übrig sein?«
John zuckte die Achseln. »Das, zu dem sie wird, nehme ich an.«
»Gut. Da unten ist es dunkel, da macht die Nacht keinen Unterschied. Du hältst das Seil, ich werde mich mit dem Licht hinunterlassen…«
»Kommt nicht in Frage«, sagte John. »Ohne ein Licht bleibe ich nicht hier oben.«
»Dann gehst du hinunter.«
John dachte darüber nach. »Ach was, wir binden das Seil an einen Wagen und gehen beide hinunter.«
»Fein«, sagte Jerry. Er lief mit dem Seil zum nächsten Wagen, knotete es um eine Stoßstange und kam zurück. Ungefähr zehn Meter Seillänge blieben ihnen, als er auf dem Hügel anlangte. »Ich zuerst«, sagte er.
»Also los!«
Jerry ließ sich in das Loch hinab. »Licht!«
John gab ihm die Lampe. Jerrys Kopf verschwand unter dem Rand. »Es reflektiert«, sagte er. Der Lichtstrahl schoß gerade hinauf in die feuchte Abendluft und erfaßte Johns Gesicht, als dieser hinabspähte. Als genug Raum war, ergriff er das gespannte Seil und folgte seinem Zwillingsbruder in die Öffnung.
Ihre Mutter hatte ihnen Geschichten erzählt, die sie von einer dänisch sprechenden Großmutter gehört hatte und in denen von solchen Hügeln voller Elfengold, Leichen, unheimlichem blauen Feuer und Gesang und Dudelsackmusik die Rede war.
Er hätte es niemals zugegeben, aber was er wirklich zu sehen erwartete, waren Zwerge.
Beide Zwillinge schwitzten, als sie am Boden des hohlen Hügels standen. Die Luft war hier viel wärmer und feuchter als draußen. Der Lichtkegel der Lampe durchschnitt einen süßlich riechenden dichten Nebel. Ihre Stiefel sanken in eine elastische, dunkelpurpurne Oberfläche, die quietschte, wenn sie sich bewegten. »Gottverdammich«, sagten sie gleichzeitig.
»Was, zum Kuckuck, sollen wir tun, da wir nun schon hier sind?« fragte John in klagendem Ton.
»Wir werden Ruth und Loren suchen, und vielleicht Tricia.« Tricia war in den vergangenen sechs Jahren Jerrys Freundin gewesen. Er hatte ihre Auflösung nicht gesehen, aber es lag nahe zu vermuten, daß dies ihr Schicksal gewesen war.
»Die sind nicht mehr«, sagte John mit leiser, kehliger Stimme.
»Und ob sie sind. Sie sind bloß auseinandergenommen und hier heruntergebracht worden.«
»Wie, zum Teufel, kommst du auf die Idee?«
Jerry schüttelte den Kopf. »Entweder das, oder sie sind tot, wie du sagst. Hast du das Gefühl, daß sie tot sind?«
John dachte nach. »Nein«, räumte er ein. Beide wußten, wie es war, einen Menschen zu verlieren, der ihnen nahestand. »Vielleicht mache ich mir bloß etwas vor.«
»Unsinn«, versetzte Jerry. »Ich weiß, daß sie nicht tot sind. Und wenn sie nicht tot sind, dann sind auch alle anderen nicht tot. Und du hast selbst gesehen…«
John nickte. Er hatte die mit sich auflösendem Fleisch gefüllten Kleider gesehen. Er hatte nicht gewußt, was er tun sollte. Es war vormittags gewesen, und am Abend zuvor waren Ruth und Loren an etwas erkrankt, was sie für eine Art Grippe gehalten hatten. Weißliche Streifen auf den Händen und Gesichtern. Er hatte ihnen gesagt, daß sie am nächsten Vormittag zum Arzt gehen würden.
Was in der Zeitspanne zwischen seiner gräßlichen Entdeckung und Jerrys Ankunft geschehen war, wußte er auch jetzt noch nicht. Er hatte geschrien oder etwas anderes getan, was seiner Kehle solch einen Schmerz verursacht hatte, daß er kaum hatte sprechen können. »Warum sind wir dann nicht auch betroffen?«
Jerry klopfte sich auf den Bauch, der Johns an Umfang nicht nachstand. »Ein zu großer Happen«, sagte er und wedelte mit der Hand im Nebel. Der Lichtkegel reichte nicht weiter als ein paar Schritte in jeder Richtung. »Also, mir ist nicht geheuer«, sagte er. »Hier unten wird mir angst und bange.«
»Das erfreut mein Herz«, sagte John.
»Du bist derjenige, der den Vorschlag machte, wir sollten hier hinein«, sagte Jerry. John erhob keine Einwände gegen die Umkehrung der Wahrheit. »Also sagst du jetzt auch, wohin wir gehen sollen.«
»Geradeaus«, sagte John. »Und gib acht auf Kobolde!«
»Ja, mein Gott. Kobolde!«
Langsam gingen sie über den schwammigen, purpurnen Boden. Mehrere feuchte und unglückliche Minuten vergingen, bevor der Lichtkegel voraus eine Oberfläche zeigte. Glänzende, unregelmäßige Röhren, grau und braun gefleckt und pulsierend, bedeckten eine Wand. Zur Linken bogen sie um und verschwanden in einem dunklen Tunnel. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Jerry.
»Na?« John zeigte zum Tunnel.
Jerry nickte. »Dunkel wie eine Negerhochzeit, aber wir wissen bereits, was das Schlimmste ist«, sagte er.
»Hoffentlich«, brummte John.
Jerry zeigte. »Du zuerst.«
»Du gefällst mir.«
»Los!«
Sie betraten den Tunnel.
26
Paulsen-Fuchs wies Uwe an, auf der Anhöhe zu halten. Das Feldlager der Protestierenden um das Firmengelände der Pharmek hatte sich in nur einer Woche um das Doppelte vergrößert. Die Zahl der Demonstranten wurde auf hunderttausend geschätzt, ein Meer von Zelten und Transparenten und Fahnen, die meisten davon auf der Ostseite, wo die Hauptzufahrt lag. Der Protest schien ohne irgendeine besondere Organisation zustande gekommen zu sein, was ihm Sorgen bereitete.
Die Leute waren nicht politisch motiviert — bloß ein Querschnitt der Bevölkerung, von Verhängnissen, die sie nicht begreifen konnte, zur Verzweiflung getrieben. Sie waren Bernards wegen zur Pharmek gekommen und wußten noch nicht, was sie wollten. Aber das würde sich ändern. Jemand — wahrscheinlich aus dem Lager politischer Unruhestifter — würde die Initiative ergreifen und dem Massenprotest Richtung geben.
Weniger gut informierte Teile der Öffentlichkeit verlangten Bernards Tötung und die Sterilisierung der Isolierkammer, doch war nicht anzunehmen, daß sie mit der Forderung durchdringen würden. Die meisten europäischen Regierungen waren sich darin einig, daß Forschung an Bernards Person die einzige Möglichkeit sei, die Seuche zu studieren und Möglichkeiten zu finden, sie zu beherrschen.
Gleichwohl war ganz Europa in Panik. Viele Reisende — Touristen, Geschäftsleute, Militärpersonal — waren vor der Quarantäne aus Nordamerika zurückgekehrt. Nicht alle von ihnen waren ermittelt und untersucht worden. Einige von ihnen waren in Hotels, Wohnungen, Häusern im Zustand der Transformation aufgefunden worden. Die Opfer waren beinahe ausnahmslos von den örtlichen Behörden getötet, die Gebäude desinfiziert und eingeäschert worden, und die Abwässer und Wasserleitungen hatte man mit starken Dosen Desinfektionsmitteln behandelt.
Niemand wußte jedoch, ob solche Maßnahmen wirksam waren.
Die Mehrzahl der Menschen überall auf der Welt war überzeugt, daß es lediglich eine Frage der Zeit sei.
Die Nachrichten, die er an diesem Morgen erhalten hatte, ließen ihn beinahe hoffen, daß diese Leute recht hätten. Die Seuche mochte dem Selbstmord vorzuziehen sein. »Zur Nordeinfahrt«, sagte Paulsen-Fuchs, nachdem er wieder eingestiegen war.
Die Ausrüstung war endlich geliefert worden und nahm jetzt die Hälfte der Isolierkammer ein. Bernard stellte Feldbett und Schreibtisch um und betrachtete das kompakte Laboratorium mit Befriedigung. Endlich würde er etwas zu tun bekommen. Er konnte sich selbst stechen und anzapfen.