Wochen waren verstrichen, und er hatte die endgültige Transformation noch immer nicht erfahren. Niemand konnte ihm sagen, warum; doch konnte er sich selbst erklären, warum noch keine Kommunikation zwischen ihm und den Noozyten zustande gekommen war, wie Vergil sie erlebt hatte. Oder sich eingebildet hatte.
Vielleicht hatte Vergil einfach den Verstand verloren, war halluzinatorischen Wahrnehmungen zum Opfer gefallen. Es war denkbar, daß eine Kommunikation überhaupt nicht möglich war.
Er benötigte weitaus mehr Ausrüstungen als in die Kammer gezwängt werden konnten, aber der größte Teil der chemischen Analysen, die er plante, konnte draußen vorgenommen und die Information seinem Datenanschluß eingegeben werden.
Er fühlte sich ein wenig wie der alte Michael Bernard. Er war auf einer Fährte. Er würde herausbringen oder den anderen helfen, zu entdecken, wie die Zellen kommunizierten, welche chemische Sprache sie gebrauchten. Und wenn sie nicht direkt mit ihm sprechen wollten, würde er einen Weg finden, zu ihnen zu sprechen. Sie vielleicht zu beherrschen. Pharmek verfügte über alle notwendigen Fachleute und Einrichtungen, über alles, was Ulam zur Verfügung gehabt hatte, um mehr; falls erforderlich, konnten sie die Experimente wiederholen und von vorn anfangen.
Bernard bezweifelte, daß es dafür eine Erlaubnis geben würde. Von Gesprächen mit Paulsen-Fuchs und anderen Pharmek-Fachleuten hatte er den Eindruck gewonnen, daß gegenwärtig eine stürmische Auseinandersetzung um ihn tobte.
Nachdem er eine kurze Inventur der Ausrüstung gemacht hatte, fing er damit an, daß er sein Gedächtnis in Verfahrensfragen auffrischte, indem er die Gebrauchsanweisungen und Handbücher las. Nach ein paar Stunden wurde er dessen müde und machte einen Eintrag in sein Computer-Notizbuch, obwohl er sehr wohl wußte, daß es nicht privat bleiben, sondern jetzt oder später von Pharmek- Leuten und Behördenvertretern gelesen würde — Psychologen, vielleicht. Alles über ihn war jetzt wichtig.
Es gibt keinen mir bekannten biologischen Grund, warum das uns bekannte Leben auf der Erde nicht bereits zugrunde gegangen ist. Die Seuche ist anpassungsfähig, kann jedes Lebewesen umwandeln. Aber Europa bleibt frei — ausgenommen verstreute Einzelfälle —, und ich zweifle daran, daß es ein Verdienst der scharfen Maßnahmen ist. Vielleicht wird die Antwort auf die Frage, warum ich atypisch für den Ablauf der Seuche bin, dieses andere Geheimnis erklären. Morgen werde ich mir wieder Blut und Gewebeproben entnehmen lassen, aber nicht alles davon wird aus der Kammer entfernt. An Teilen dieser Proben werde ich selbst arbeiten, insbesondere an Blut und Lymphe.
Er zögerte, die Finger über der Tastatur, und war im Begriff, weiterzuschreiben, als Paulsen-Fuchs in den Nebenraum kam und mit einem Summton um seine Aufmerksamkeit bat.
Bernard drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Guten Tag.« Wie seit einiger Zeit üblich, war er nackt. Eine Kamera in der oberen rechten Ecke des Nebenraumes nahm ihn kontinuierlich auf und gab die Konturen und Besonderheiten seines Körpers zur Analyse in den Computer ein.
»Kein guter Tag, Michael«, antwortete Paulsen-Fuchs. Sein langes Gesicht war noch länger und hagerer als sonst. »Als hätten wir nicht schon genug Probleme, sehen wir uns nun der Möglichkeit eines Krieges gegenüber.«
Bernard stand auf und trat zum Fenster, hinter dem der andere eine britische Tageszeitung aufschlug. Die Schlagzeile sandte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
RUSSISCHER ATOMSCHLAG GEGEN PANAMAKANAL
»Wann?« fragte er.
»Gestern nachmittag. Kuba meldete eine über den Atlantik ziehende radioaktive Wolke. Militärische Nachrichtensatelliten der Nato entdeckten die heiße Stelle. Ich vermute, daß die Militärs schon vorher Bescheid wußten — sie müssen ihre Seismographen oder was immer haben —, aber die Presse und die Rundfunkanstalten erfuhren erst heute früh, was geschehen war. Die Russen setzten neun oder zehn Raketen mit Gefechtsköpfen von jeweils einer Megatonne ein, wahrscheinlich von einem U-Boot abgeschossen. Die gesamte Kanalzone ist…« Er schüttelte den Kopf. »Von den Russen gibt es keine Stellungnahme. In Deutschland glaubt die Hälfte der Bevölkerung, daß wir noch in dieser Woche angegriffen werden. Die andere Hälfte ist betrunken.«
»Gibt es Nachrichten vom Kontinent?« So bezeichnete man seit kurzem Nordamerika: der Kontinent, das wirkliche Zentrum der Geschehnisse.
»Nichts«, sagte Paulsen-Fuchs und warf die Zeitung auf den Tisch.
»Glauben Sie — und die anderen Europäer —, daß die Russen in Nordamerika eindringen werden?«
»Die Meinungen sind geteilt. Manche rechnen jeden Tag damit. Sie könnten sich auf das Recht berufen, herrenloses Gut in Besitz zu nehmen.« Er schmunzelte.
»Ich bin kein Anwalt, aber sie werden sich schon die richtigen Begründungen ausdenken und in Genf rechtfertigen, wenn sie Genf nicht inzwischen auch bombardiert haben.« Er beugte sich über den Tisch, beide Arme rechts und links neben der Zeitung aufgestützt. »Niemand ist darauf vorbereitet, die Frage zu erörtern, was mit ihnen geschehen wird, wenn sie sich zu einer Besetzung Nordamerikas entschließen. Die amerikanische Exilregierung möchte mit ihren in Europa stationierten Truppen und Marineeinheiten drohen, aber die europäischen Regierungen setzen sie aus Furcht vor einem Atomkrieg unter Druck, und die Russen nehmen sie nicht ernst. Bevor Sie mich im vergangenen Monat anriefen, hatte ich geplant, meine erste Urlaubsreise seit sieben Jahren anzutreten. Offensichtlich wird wieder nichts daraus. Michael, Sie haben etwas in mein Leben gebracht, das mich umbringen kann. Bitte vergeben Sie mir die selbstsüchtige Regung.«
»Ich verstehe«, sagte Bernard.
»In Deutschland gibt es einen alten Soldatenspruch«, sagte Paulsen-Fuchs. ›»Es ist die Kugel, die du nicht hörst, die dich erwischt. ‹ Sehen Sie darin eine Bedeutung für sich?«
Er nickte.
»Dann machen Sie sich an die Arbeit, Michael. Tun Sie, was Sie können, bevor wir alle von eigener Hand den Tod finden!«
27
Am Arbeitsplatz des Wachmannes fand Suzy eine lange, starke Taschenlampe — sehr aufwendig, schwarz wie ein Feldstecher und mit einem Lichtkegel, der durch Drehen eines Knopfes scharf gebündelt oder weit gefächert werden konnte — und machte sich daran, die Einkaufsstraße und den Verbindungsweg zwischen den beiden Türmen zu erkunden. In einer Boutique verbrachte sie einige Zeit mit der Anprobe von Kleidern, konnte sich selbst jedoch nicht sehr gut im Lichtkegel sehen, und das Vergnügen wurde rasch langweilig. Außerdem war es spukhaft. Sie unternahm einen halbherzigen Versuch festzustellen, ob andere wie sie das Gebäude betreten hatten, und wagte sich sogar in die U-Bahn-Station Cordtlandt Street. Als sie sich vergewissert hatte, daß die unteren Geschosse leer waren — mit Ausnahme der allgegenwärtigen Häufchen von Kleidern —, kehrte sie zurück zu ihrem Kerzenschein-Raum, wie sie ihn getauft hatte, und plante ihren Aufstieg.
Sie hatte einen Übersichtsplan vom Nordturm gefunden und fuhr mit dem Finger die Grundrisse von Foyer und Verbindungsbau nach, um sich zu orientieren. Beim Durchblättern des Plans wurde ihr klar, daß das Gebäude keine hohen Treppenhäuser hatte, sondern Verbindungstreppen, die in jedem Stockwerk an anderer Stelle waren.
Das bedeutete eine weitere Erschwernis ihres Aufstiegs. Sie fand auf dem Plan die Tür, die zur ersten Treppe führte und ging hin. Sie war verschlossen. Wieder am Tisch des Wachmannes, stieß sie mit dem Fuß eine in sich zusammengesunkene Uniform an und förderte einen großen Schlüsselring an einer selbstaufspulenden Kordel zutage. Sie zog den Gürtel aus den Schlaufen, bemerkte, daß ein Büstenhalter in der Kleidung war und brachte die Schlüssel an sich. »Verzeihung«, flüsterte sie und versuchte, die Kleider wieder in ihren vorherigen Zustand zu bringen. »Ich leihe sie bloß aus. Bin gleich wieder da.« Sie faßte sich und biß sich auf den Daumen. Dummes Zeug, dachte sie bei sich. Niemand ist da. Bloß ich, jetzt.