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Es dauerte einige Minuten, bis sie mühsam die Etiketten der verschiedenen Schlüssel entziffert und denjenigen gefunden hatte, der die Tür zum Treppenhaus öffnete. Hinter der Tür waren schmucklose Stufen aus Beton und Stahl. Im nächsten Geschoß kam sie in einen Korridor, spähte um die Ecke und sah Türen, die zu verschiedenen Büros führten, manche mit Schildern gekennzeichnet, andere bloß numeriert. Ein rascher Blick in mehrere der Büros brachte ihr wenig Aufschluß.

»In Ordnung«, sagte sie sich. »Es ist nichts als ein Fußmarsch, ein langer, steiler Fußmarsch. Ich werde Essen und Wasser brauchen.« Sie blickte auf ihre Turnschuhe und seufzte. Sie würde sich mit ihnen behelfen müssen, es sei denn, sie nähme ein paar leere Schuhe von…

Diese Idee war ihr zuwider. Hinter dem Zeitungsstand im Foyer fand sie einen Plastikeinkaufsbeutel und füllte ihn mit leichtgewichtigen Lebensmitteln aus ihrem Einkaufswagen. Wasser war schwieriger; die Plastikflaschen mit Mineralwasser waren zu dick, um sie in den Gürtel zu stecken, aber es gab keine rechte Alternative. Und wenn sie in den oberen Stockwerken entdeckte, daß die Wasserversorgung noch funktionierte — außerdem mußte es Wasserkühler geben —, konnte sie die Flaschen immer noch zurücklassen.

Um acht Uhr dreißig am Morgen begann sie den Aufstieg. Es war am besten, sagte sie sich, in gleichmäßigem Schritt zehn Stockwerke zu steigen und dann auszuruhen oder zu erforschen, was es auf dieser Ebene gab und was von dort von der Stadt zu sehen war. Auf diese Weise würde sie bis zum Abend vielleicht oben ankommen.

Während sie »Michelle« summte, stieg sie Treppe um Treppe hinauf, eine Hand am Eisengeländer, eine Tür nach der anderen aufstoßend. Sie versuchte, eine Art Rhythmus zu finden. Kenneth und Howard waren einmal mit ihr in Maine wandern gewesen, und sie hatte dort gelernt, daß jeder Wanderer einen bestimmten Rhythmus hatte. Folgte man ihm, wurde das Gehen viel einfacher; unterbrach man ihn, um jemand anderem zu folgen, wurde es viel anstrengender.

»Niemand da, dem ich folgen könnte«, sagte sie sich im vierten Stock. Wieder summte sie »Michelle«, doch gelang es ihr nicht, den Rhythmus ihren Schritten anzugleichen, so daß sie sich damit begnügte, einen Marsch zu pfeifen. Im neunten Stock begann sie zu schnaufen. »Noch eine Etage.« Und im zehnten Stock setzte sie sich auf den Boden, den Rücken an der Wand zum Aufzug-Vorraum, und starrte die Türen an. Vielleicht war es keine gute Idee, aber sie war hartnäckig — ihre Mutter hatte immer mit einigem Stolz gesagt, daß sie Ausdauer habe —, und sie wollte nicht nachlassen. »Nichts anderes zu tun«, sagte sie, und ihre Stimme hallte hohl im verlassenen Raum.

Nachdem sie verschnauft hatte, stand sie auf und nahm ihre Traglast auf. Dann ging sie zur nächsten Tür und öffnete sie. Wieder eine Treppe hinauf. Ein weiterer Vorraum, mehr Korridore und Büros. Sie beschloß, eines der Ausruhzimmer zu untersuchen.

»Vielleicht gibt’s Wasser«, sagte sie sich. Sie betrat den Vorraum der Toiletten, schaute zwischen Herren- und Damentoilette hin und her und kicherte, ging dann in die Herrentoilette. Sie leuchtete mit der Lampe über Spiegel und Armaturen, gab der Neugier nach und ging durch den Waschraum zum Pissoir. Sie hatte noch nie die Reihe der weißen Porzellanbecken an der Wand gesehen, hatte sogar vergessen, wie sie genannt wurden. Sie schaute unter die Toilettentüren und bekam einen Schreck. Furcht vermischte sich mit aufkommender perverser Heiterkeit.

In einer der Toiletten lag ein Haufen Kleider. »Den hat es gleich in die Toilette gesaugt«, murmelte sie, richtete sich auf und fuhr mit der Hand über die Augen. »Armer Kerl. Was für ein Ende.« Sie drehte den Warmwasserhahn am Waschbecken. Wasser tröpfelte heraus. Mehr kam, als sie den Kaltwasserhahn aufdrehte, aber es sah nicht vielversprechend aus.

Sie verließ die Toiletten und schlenderte einen Korridor entlang. Hinter einer großen hölzernen Flügeltür mit japanisch klingenden Namen war ein Wartezimmer, samtbezogene Sofas, Glastische und ein großer Schreibtisch nahe der Rückwand. Es gab keine Empfangsdame und auch keine Kleider.

Sie schaute aus dem Fenster des Wartezimmers hinab auf den Platz. Der Beton war jetzt ganz unter einem braunen Überzug verschwunden. »Weiter«, sagte sie sich. Die Himmelsleiter. Stirb oben und sei dem Ziel näher!

28

»Wie wenn man eine Kehle hinunterkriecht«, sagte John.

»Gott, bist du krankhaft.«

»Es ist aber so, nicht?«

»Tja«, sagte Jerry, grunzte und bückte sich tiefer. »Wir benehmen uns wie Idioten. Warum dieser Hügel, und warum jetzt?«

»Du hast ihn ausgesucht.«

»Und ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht ohne irgendeinen Grund.«

»Ob dieser oder ein anderer, es wird aufs gleiche hinauslaufen.«

Die Tunnelwände veränderten sich, als sie weiter vordrangen. Große fleischige Röhren machten einem feinen, glänzenden Netzwerk Platz, dessen Beschaffenheit an die Innenwände von Gedärmen oder Mägen erinnerte. John richtete den Lichtkegel nach oben und sah, daß jede kleine Höhlung zwischen den Zotten mit winzigen Scheiben und Würfeln und Kugeln angefüllt war, die in ungeordnetem Durcheinander gestapelt waren. Der Boden verengte sich, das schwammige, purpurne Material bildete Rücken, die parallel zum Tunnel verliefen. »Drainage«, sagte Jerry und zeigte hin.

Sie ließen den Lichtkegel hin und her wandern, um an dem Gefühl von Normalität und Sicherheit teilzuhaben, das er ihnen gab. Manchmal leuchteten sie einander in die Gesichter, oder inspizierten ihre Haut oder ihre Kleider, um sicherzugehen, daß nichts an ihnen haftete.

Auf einmal weitete sich der Tunnel und der dichte, süßliche Nebel trieb um sie. »Wir sind weit genug gegangen, um unter einem anderen Hügel zu sein«, sagte Jerry. Er machte halt und zog seinen Stiefel aus etwas Klebrigem. »Da ist so ein Zeug überall am Boden.«

John leuchtete Jerrys Stiefel an. Eine bräunlichrote zähe Masse haftete an der Sohle. »Scheint nicht tief zu sein«, sagte er.

»Vorläufig noch nicht.« Der Nebel roch schwach nach Dünger, oder wie die See. Lebendig. Er zirkulierte in Schleiern, als würde er von Luftströmen in Bewegung gehalten.

»Wohin jetzt? Wir wollen nicht im Kreis laufen«, sagte Jerry.

»Du bist der Anführer«, sagte John. »Verlang nicht, daß ich die Initiative ergreife.«

»Riecht, als hätte jemand Seetang in einem Süßwarengeschäft abgeladen«, sagte Jerry. »Schnürt einem die Kehle zu.«

»Pilze«, sagte John und richtete den Lichtkegel abwärts. Weiße Kappen von ungefähr zehn Zentimetern Durchmesser waren um ihre Füße und bildeten sich unter ihnen, während sie gingen. Er schwenkte den Lichtkegel höher und sah durch den Nebel vor ihnen vertikale und horizontale Linien.

»Regale«, sagte Jerry. »Regale, auf denen was wächst.«

Die Regale waren kaum dicker als ein halber Zentimeter und wurden in unregelmäßigen Abständen von Wandhaltern getragen, die alle aus einer harten weißen Substanz waren, die im Lichtschein glänzte. Auf den Regalen waren Stapel von einem Material, das wie verbranntes Papier aussah — nasses, verbranntes Papier.

Jerry befühlte einen der Stapel mit dem Zeigefinger und schauderte.

»Ich würde an deiner Stelle nichts anrühren«, sagte John.

»Was heißt, an meiner Stelle? Du bist ich, Bruder. Bis auf unbedeutende Unterschiede.«