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Sie war Anfang oder Mitte fünfzig, mit offenem schwarzen Haar, und sie trug ein pfirsichfarbenes Seidengewand, das bis zu den Knöcheln reichte und hinter ihr flatterte, als sie näherlief. Die Brüder sahen einander an und schüttelten den Kopf, ungewiß, was sie denken oder tun sollten.

Sie kam zur Beifahrerseite, außer Atem und lachend. »Gott sei gedankt!« sagte sie. »Oder der glücklichen Fügung des Schicksals. Ich dachte schon, ich sei die einzige Überlebende in der ganzen Stadt.«

»Anscheinend nicht«, murmelte Jerry. John öffnete die Tür, und sie kletterte herauf ins Fahrerhaus. Er rückte zur Seite und machte ihr Platz, und sie setzte sich mit einem tiefen Seufzer und lachte wieder. Sie wandte den Kopf und betrachtete die beiden mit einem Ausdruck plötzlich erwachten Mißtrauens. »Sie sind hoffentlich keine Straßenräuber, oder?«

»Glaube ich nicht«, sagte Jerry, den Blick nach vorn auf die Straße gerichtet. »Von wo sind Sie?«

»Aus der Stadt. Mein Haus ist weg, und die ganze Nachbarschaft ist eingewickelt wie ein Weihnachtspaket. Ich dachte, ich sei die einzige Überlebende auf der Welt.«

»Dann haben Sie nicht Radio gehört«, sagte John.

»Nein. Ich mag die elektronischen Sachen nicht. Aber ich weiß auch so, was vorgeht.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Jerry und legte den Gang ein.

»In der Tat. Mein Sohn. Er ist für dies alles verantwortlich. Ich hatte keine Ahnung, welche Form es annehmen würde, aber es gibt keinen Zweifel. Und ich warnte ihn noch!«

Die Zwillinge tauschten wieder einen Blick. Die Frau warf das Haar zurück und zog es im Nacken geschickt durch ein Gummiband.

»Ja, ich weiß«, sagte sie und lachte leise. »Verrückt wie eine Bettwanze, die Alte. Aber wenn Sie mir schon nicht glauben, ich kann Ihnen sagen, wohin wir fahren sollten.«

»Wohin?« fragte Jerry.

»Nach Süden«, sagte sie entschieden. »Dorthin, wo mein Sohn arbeitete.« Sie strich das Gewand über ihren Knien glatt. »Übrigens, mein Name ist Ulam, April Ulam.«

»John«, sagte John, streckte unbeholfen die Rechte aus und ergriff ihre Hand. »Und das ist mein Bruder, Jerry.«

»Ah, ja«, sagte April. »Zwillinge. Leuchtet ein.« Jerry fing an zu lachen. Tränen traten ihm in die Augen, und er wischte sie mit dem schmutzigen Handrücken ab. »Südwärts, meine Dame?« fragte er. »Selbstverständlich.«

29

Elektronisches Tagebuch von Michael Bernard

15. Januar: Heute begannen sie, mit mir zu sprechen. Stockend zuerst, dann, im weiteren Tagesverlauf, mit größerer Zuversicht.

Wie soll ich die Erfahrung ihrer »Stimmen« beschreiben? Nachdem sie endlich die Blut-Gehirn-Barriere überwunden und die (für sie) enormen Grenzgebiete meines Gehirns erforscht haben, und nachdem sie in den Aktivitäten dieser neuen Welt ein ordnendes Prinzip — nämlich mich — erkannt und begriffen haben, daß die Information aus ihrer fernen Vergangenheit vor Monaten zutreffend war, daß eine makroskopische Welt tatsächlich existiert…

Nachdem sie dies alles gelernt haben, müssen sie sich nun mit der Vorstellung vertraut machen, was es ist, Mensch zu sein. Denn erst in diesem Stadium können sie mit diesem Gott in der Maschine kommunizieren. Indem sie während der letzten Tage vielleicht Zehntausende von »Gelehrten« an diesem Projekt arbeiten ließen, haben sie die Aufgabe tatsächlich gelöst und plaudern jetzt mit mir nicht anders als beispielsweise ein australischer Ureinwohner.

Ich sitze in meinem Schreibtischsessel, und wenn die verabredete Zeit kommt, sprechen wir. Ein Teil davon ist in englisch (ich denke, daß die Unterhaltung möglicherweise auf einer vorsprachlichen Ebene des Gehirns stattfindet und von meinem eigenen Verstand nachträglich ins Englische übertragen wird), teils visuell, teils in anderen Sinneswahrnehmungen — überwiegend durch den Geschmack, an Sinnesorgan, das ihnen besonders zuzusagen scheint.

Ich kann die Größe der Population in mir nicht schätzen. Sie kommen in vielen Kategorien vor: die ursprünglichen Noozyten und ihre Derivate, die unmittelbar nach der Invasion umgewandelt wurden; die Kategorien mobiler Zellen, von denen viele dem Körper offenbar neu sind, neu entworfen und mit neuen Funktionen versehen; die stationären Zellen, vielleicht keine Individuen im geistigen Sinne, da sie keine Mobilität haben und feste, wenn auch komplexe Funktionen erfüllen; die bisher noch unveränderten Zellen (nahezu alle Zellen in meinem Gehirn und Nervensystem fallen in diese Kategorie); und andere, über die ich mir noch nicht im klaren bin.

Zusammen mag ihre Zahl über zehn Billionen betragen. Nach grober Schätzung existieren in mir vielleicht zwei Billionen voll entwickelte, intelligente Individuen.

Wenn ich diese annähernde Zahl mit der Bevölkerung Nordamerikas multipliziere, die etwa eine halbe Milliarde betragen haben muß, gelange ich zu einer Milliarde Billionen, also in eine Größenordnung von 1020. Das ist die Zahl der intelligenten Lebewesen auf dem amerikanischen Kontinent — wobei selbstverständlich die gesamte vernachlässigbare menschliche Bevölkerung nicht mitgerechnet ist.

Bernard schob seinen Schreibtischsessel zurück, nachdem er die Eintragung dem Speicher übergeben hatte. Es gab zu viel aufzuzeichnen, zu viele Details; er verzweifelte angesichts der Aufgabe, die Erkenntnisse und Empfindungen den Forschern draußen auseinanderzusetzen. Nach wochenlanger Frustration und klaustrophobischen Anwandlungen, und dann dem Versuch, die chemische Sprache in seinem Blut zu entschlüsseln, gab es plötzlich eine so gewaltige Überfülle von Informationen, daß er sich außerstande sah, sie aufzunehmen. Er brauchte nur zu fragen, und tausend oder eine Million intelligenter Wesen organisierten sich, seine Frage zu analysieren und ausführlich und schnell zu beantworten.

»Was bin ich euch?« brachte etwa die Antwort:

— Vater/Mutter/Universum

— Welt-Herausforderung

— Quelle von allem

— Alt, langsam

— Berg/Galaxis

Und er konnte Stunden damit verbringen, die Komplexe sinnlicher Wahrnehmung, welche die Worte begleiteten, nachzuvollziehen; den Geschmack seines eigenen Blutserums, die festen Gewebe seines Körpers, die Freude über eingeschwemmte Nährstoffe, die Notwendigkeit von Reinhaltung und Schutz.

Wenn er in der Stille der Nacht auf seinem Feldbett lag, nur beleuchtet von den Infrarot-Sensoren, von den anderen, an seinem Körper befestigten Meß- und Kontrollgeräten zu schweigen, schwamm er in seine Träume und wieder heraus, und die vorsichtigen, beinahe ehrerbietigen Fragen und Antworten der Noozyten vermischten sich mit seinen Traumbildern. Hin und wieder erwachte er, als sei er von einem geistigen Wachhund aufgerüttelt worden, um zu erfahren, daß neues Territorium sondiert wurde.

Selbst am Tag erfuhr sein Zeitgefühl eine Verzerrung. Die Minuten, die er in Gesprächen mit den Zellen verbrachte, erschienen ihm wie Stunden, und wenn er danach in die Welt der Isolierkammer zurückkehrte, geschah es mit einem verwirrenden Mangel an Überzeugung von ihrer Realität.

Die Besuche von Paulsen-Fuchs und anderen schienen in längeren Abständen zu erfolgen, obwohl sie tatsächlich jeden Tag zur gleichen festgesetzten Zeit stattfanden.

Um drei Uhr nachmittags kam Paulsen-Fuchs mit seinen Zeitungen und Erörterungen der Neuigkeiten, die Bernard früher am Morgen in den Fernsehnachrichten gehört hatte. Die Nachrichten waren unweigerlich schlecht und wurden noch schlechter. Mit der Bombardierung der Panama-Kanalzone hatte die Sowjetunion ganz Westeuropa in Panik und hilflosen Zorn versetzt. Daraufhin hatte sie sich in ein verdrießliches Schweigen zurückgezogen, das niemanden ermutigen konnte. Bernard dachte über diese Probleme nur flüchtig nach; wichtiger war ihm, welche Fortschritte es in der Beherrschung der intelligenten Zellen gab.