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Sie tastete nach der Taschenlampe und fand sie. Nach kurzem Schütteln ging das Licht wieder an, und sie leuchtete umher und vergewisserte sich, daß die braunen und weißlichen Fasern und Laken sie nicht überholt hatten. Sie blickte abschätzend zur Tür des dreiundachtzigsten Stockwerks und erkannte, daß sie einstweilen nicht in der Lage sein würde, Treppen zu steigen, vielleicht den Rest des Tages nicht mehr. Sie kroch zur Tür und blickte über die Schulter zum Radio, als sie die Hand zur Klinke ausstreckte. Das Radio lag auf dem Treppenabsatz; es war hart aufgeprallt, als sie gestrauchelt war. Einen Augenblick lang dachte sie, daß sie es gerade so gut aufgeben könne, aber das Radio hatte eine besondere Bedeutung für sie: es war das einzige Bindeglied zur menschlichen Vergangenheit, die sie verloren hatte, das einzige Ding, das zu ihr sprach. Vielleicht würde sie irgendwo in dem Gebäude ein anderes finden, aber gewiß war das nicht, und sie glaubte, die Stille nicht ertragen zu können. Bemüht, das schmerzende Bein geradezuhalten, kroch sie zurück, das Radio zu holen.

Durch die schwere feuersichere Tür zu kommen, war mit mehr und neuen Schmerzen verbunden, als sie ihr im Zufallen den Arm einklemmte, aber schließlich streckte sie sich auf dem Teppichboden vor den Aufzügen aus und blickte zur schallschluckenden Decke auf. Dann wälzte sie sich auf den Bauch, lauschte aufmerksam, ob sich irgendwo etwas regte.

Stille, völlige Ruhe.

Langsam, bemüht, ihre Kräfte zu schonen, kroch sie aus dem Vorraum und um eine Ecke.

Hinter einer Glaswand lag ein großer Raum voller Zeichentische. Weiß emaillierte Beine auf beigefarbenem Teppichboden, schwarze Arbeitslampen mit verstellbaren Armen, die wie Krähen auf ihren Stangen saßen. Die Glastür stand angelehnt; ein Gummikeil hinderte sie am Schließen. Suzy hoppelte am Vorzimmer vorüber, bis sie den nächstbesten Tisch erreichte, auf den sie sich stützen konnte, die Augen glänzend von Erschöpfung und Schmerz. Auf dem Zeichentisch neben ihr lagen Blaupausen. Sie war in den Räumen eines Architekturbüros. Sie schaute eine der Zeichnungen genauer an und sah, daß sie einen Decksplan für ein Schiff darstellte. Also war es ein Konstruktionsbüro für Schiffe. Nun, ihr konnte es gleich sein.

Sie setzte sich auf einen Drehstuhl, dessen Gleitrollen blockiert waren. Mit einem Fuß bemühte sie sich eine halbe Minute lang, die Blockierung zu lösen, dann rollte sie sich mit dem Stuhl durch einen Gang zwischen den Tischen, wobei sie sich an den Tischkanten weiterzog.

Eine weitere lange Glaswand trennte den Zeichensaal von Büroabteilen. Sie hielt an und starrte. Alle Furcht war von ihr gewichen. Sie hatte sich erschöpft. Am nächsten Morgen, dachte sie bei sich, würde vielleicht mehr Furcht erhältlich sein, aber einstweilen vermißte sie sie nicht. Sie beobachtete bloß.

Die Büroteile waren voller Bewegung. Was dort herumwimmelte, war so seltsam, daß sie kaum wußte, wie sie sich selbst eine Beschreibung davon geben konnte. Scheiben mit Schneckenfüßen krochen über das Glas, und ihre Ränder leuchteten. Etwas Formlos-Flüssiges wie ein Tropfen Wachs oder Gummiarabikum hüpfte in einem anderen Abteil herum und schien sich gegen schwarze Kabel oder Seile zu werfen, die funkelnd den Raum durchzogen; der Tropfen strahlte fluoreszierendes grünes Licht aus, wann immer er mit Glas oder Mobiliar in Berührung kam. Im letzten Abteil erhob sich ein Wald von schuppigen Stecken, die an Hühnerbeine erinnerten und in einer unmöglichen Brise schwankten und wogten.

»Es ist irrsinnig«, sagte sie sich. »Es hat nichts zu bedeuten. Nichts geschieht, weil es keinen Sinn ergibt.«

Sie rollte ihren Stuhl fort von den Büroabteilen und an die Fenster. Der Boden schien aufgeräumt, nirgendwo war herumliegende Kleidung zu sehen. Von der anderen Seite des Raumes gesehen, ähnelten die Büroabteile Aquarien, in denen sich exotische Meereslebewesen tummelten.

Vielleicht war sie sicher. Was in einem Aquarium war, kam gewöhnlich nicht heraus. Sie versuchte, sich davon zu überzeugen, daß sie in Sicherheit sei, aber im Grunde war es gleich. Einstweilen konnte sie nirgendwohin.

Ihr Knie schwoll an, daß die Jeans sich spannte. Sie dachte daran, den Stoff aufzuschneiden, fand es dann aber besser, die Hose einfach auszuziehen. Grunzend vor Anstrengung, ließ sie sich vom Stuhl auf den Boden herab und lehnte sich gegen einen Ablageschrank. Indem sie die Hüften hob und auf einem Bein balancierte, brachte sie die knapp sitzenden Jeans herunter und vorsichtig über die Anschwellung hinweg.

Es sah noch nicht sehr schlimm aus, nur dick und mit einem purpurnen Bluterguß unter der Kniescheibe. Sie befühlte das Knie und verspürte Übelkeit, nicht vor Schmerzen, sondern einfach vor Erschöpfung. Es war jetzt nichts mehr von Suzy McKenzie übrig. Die alte Welt war vor ihr dahingegangen, bis nichts davon geblieben war außer Gebäuden, die ohne Bewohner wie Skelette ohne Fleisch waren. Neues Fleisch zog ein, die Skelette zu bedecken. Bald würde auch die alte Suzy McKenzie fort sein und nichts hinterlassen als einen lächerlichen Schatten.

Sie blickte nach Norden, um die Ecke des Ablageschrankes und über eine niedrige Kredenz.

Dort war das neue Manhattan, eine Zeltstadt mit vereinzelt stehengebliebenen Wolkenkratzern als Masten; eine Stadt aus Spielzeugblöcken, die unter rostfarbenen Planen versteckt und umgeordnet waren. Der Sonnenuntergang tauchte alles in warme braune und gelbe Töne. Das Neuere York, angefüllt mit leeren Kleidern.

Suzy ließ sich auf den Teppich zurücksinken, legte den Kopf auf die Arme und schob die gespenstisch leeren Jeans unter das Knie, um es etwas anzuheben. »Wenn ich aufwache«, sagte sie sich, »werde ich eine Wunderfrau sein, glänzend und hell. Und ich werde wissen, was geschieht.«

Tief in ihrem Innern verstand sie jedoch, daß sie aufwachen und unverändert die alte Suzy sein würde, und die Welt würde sich nicht ihr zuliebe zurückverwandelt haben.

»Kein gutes Geschäft«, murmelte sie.

In der Dunkelheit wuchsen Fasern lautlos über den Teppich, reichten in die verglasten Büroräume und unterdrückten die überschäumende Kreativität darin.

37

— Ich gehöre niemandem. Ich bin nicht, was ich einst war. Ich habe keine Vergangenheit. Ich bin losgetrennt von allem, und es gibt tatsächlich keinen Ort, wohin ich gehen könnte. Ich muß mich ganz ihnen und ihren Plänen überlassen.

— Ich bin physikalisch von der Außenwelt getrennt, und nun auch geistig.

— Meine Arbeit hier ist getan.

— Ich warte.

— Ich warte.

WÜNSCHST du wirklich unter uns zu reisen, unter uns zu sein?

— Ja.

Er starrt auf die roten und grünen und blauen Zeichen auf dem Bildschirm. Die Zahlen und Diagramme verlieren momentan alle Bedeutung, als ob er ein Neugeborenes wäre. Dann werden der Bildschirm, die Konsole, auf der er steht, der Vorhang zur Duschkabine dahinter und die Wände der Isolierkammer durch eine silbrige Null ersetzt.

Michael Bernard überquerte eine Zwischenschicht.

Er wird entschlüsselt.

Nicht länger aller Empfindungen, in einem Körper zu stecken, bewußt, kein automatisches Horchen und Reagieren auf die Bewegungen von Muskeln, das Blubbern von Flüssigkeiten im Bauch, das Pulsieren und Rauschen des Blutes, das gleichmäßige Pochen des Herzens. Er gleicht nicht mehr aus, spannt und entspannt nicht mehr. Es ist wie der plötzliche Übergang aus einer Stadt in das Innere einer stillen Höhle.

Anfangs ist das Denken selbst körnig, unterbrochen. Wenn so etwas möglich ist, sieht er sich selbst am Grundpfeiler des Universums, wo alle Atome und Moleküle sich vereinigen und trennen, stille Geräusche zueinander machen, wie die tastenden Beine von Schalentieren am Meeresgrund. Er ist aufgehängt in lautloser, zuckender Aktivität, außerstande, seine Lage kritisch zu betrachten oder auch nur Gewißheit zu haben, was er ist. Ein Teil seiner Fähigkeiten ist vorübergehend abgeschnitten. Dann, mit einem Ruck, kann er beurteilen, bewerten. Gedankenbewegungen wie das Rascheln dürrer Blätter über eine Rasenfläche, wenn der Herbstwind bläst. Wie ein träger Strom von Gelatine, der in eine kalte Schale gegossen, umgerührt wird und zur Ruhe kommt.