»Ich wußte es«, sagte sie und ließ die Schultern hängen. »Ich träume.«
Ihre Brüder schauten sie an und lächelten, schüttelten den Kopf.
»Nein, du träumst nicht«, sagte Kenneth. »Wir sind wieder da.«
Der Aufzug hob sie lautlos die verbleibenden fünfundzwanzig Stockwerke empor.
»Dummes Zeug«, sagte sie und fühlte die Tränen auf den Wangen. »Es ist grausam.«
»Gut, der Teil mit dem Schlafzimmer, dem Haus — das ist ein Traum. Manches dort unten würdest du wahrscheinlich nicht sehen mögen, aber wir sind hier. Wir sind wieder bei dir.«
»Ihr seid tot«, sagte sie. »Mama auch.«
»Wir sind anders«, sagte Howard. »Nicht tot.«
»So, was seid ihr dann, Marionetten? Verdammt!«
»Sie haben uns nicht getötet«, sagte Kenneth. »Sie haben uns bloß… auseinandergenommen. Wie alle anderen.«
»Nun, wie beinahe alle anderen.« Howard wies auf sie, und beide grinsten.
»Du hast Glück gehabt, oder etwas versäumt, je nachdem, wie man es sieht«, sagte Kenneth.
Mittlerweile war ihr himmelangst. Die Aufzugtür öffnete sich, und sie traten hinaus in eine elegante, verspielte Halle. Zu beiden Seiten setzten sich die Lichtreflexe der Lampen bis in die Unendlichkeit fort. Die Lampen waren eingeschaltet! Der Aufzug funktionierte! Sie mußte träumen, oder sie war schließlich verrückt geworden.
»Manche sind auch gestorben«, sagte Kenneth in feierlichem Ton und nahm sie bei der Hand. »Unfälle, Fehler.«
»Das ist nur ein Teil dessen, was wir jetzt wissen«, sagte Howard. Sie gingen zwischen den Spiegeln dahin, vorüber an einer großen aufgeschnittenen Druse, deren Inneres eine Pracht von Amethystkristallen zeigte, vorbei an einem monumentalen Klumpen Rosenquarz und an einem durchschnittenen und polierten Malachitknollen. Niemand kam ihnen im Foyer des Restaurants entgegen. »Mama ist drin«, sagte er. »Wenn du Hunger hast, hier oben gibt es jede Menge zu essen, das ist sicher.«
»Der Strom ist eingeschaltet«, sagte sie.
»Notstromaggregat im Keller. Lief noch eine Weile, nachdem die Stromversorgung der Stadt aufhörte, aber der Treibstoff ging aus, verstehst du? Also suchten wir Treibstoff. Sie sagten uns, wie man das Ding bedient, und wir schalteten es ein, bevor wir dich holten«, sagte Howard.
»Ja. Es fällt ihnen schwer, Leute zu rekonstruieren, also machten sie nur Mama und uns. Nicht das Instandhaltungspersonal und die anderen. Wir erledigten die ganze Arbeit. Du hast eine Weile geschlafen, weißt du?«
»Zwei Wochen.«
»Deshalb ist dein Knie jetzt besser.«
»Das und…«
»Pst«, sagte Kenneth und hob die Hand, seinen Bruder zur Schweigsamkeit zu ermahnen. »Nicht alles auf einmal.« Suzy blickte von einem zum anderen, als sie sie in die Mitte nahmen und in das Restaurant führten.
Es war Spätnachmittag. Die Stadt, deutlich sichtbar durch die Panoramafenster des Restaurants, war nicht mehr in die lebendigen Laken gehüllt.
Sie konnte keine vertrauten Landmarken erkennen. Vorher hatte sie wenigstens die verborgenen Umrisse von Gebäuden, die Straßenschluchten und die Umrisse von Stadtteilen ausmachen können.
Es war nicht mehr derselbe Ort.
Grau, schwarz, blendend weiß wie Marmor, angeordnet in Polyedern und Pyramiden, manche durchscheinend wie Milchglas. Organisch anmutende Formen wechselten mit Platten von einigen Dutzend Metern Höhe, die wie aufgestellte Dominosteine vom Battery Park bis zum Riverside Park führten. Alle Formen und Massen der Gebäude Manhattans waren in seinen Sack gesteckt, durcheinandergeschüttelt, umgeformt und frisch gestrichen worden.
Vor allem aber waren die Strukturen nicht mehr aus Beton und Stahl. Suzy wußte nicht, woraus sie waren.
Aber sie waren lebendig.
Ihre Mutter saß hinter einem breiten, mit Speisen überladenen Tisch. Entlang der Vorderseite waren Salate in Schüsseln aufgereiht, ein dicker angeschnittener Schinken erhob sich in der Mitte, Schalen mit Oliven und eingelegtem Gemüse nahmen die Seiten ein, Kuchen und Süßspeisen den rückwärtigen Teil. Ihre Mutter lächelte und kam hinter dem Tisch hervor, die Arme ausgebreitet. Sie trug ein teures Kleid, dessen Ärmel mit Spitzen und Perlen besetzt waren, und sah absolut umwerfend aus. »Suzy«, sagte sie. »Schau nicht so ängstlich! Wir sind zu Besuch gekommen.«
Sie umarmte ihre Mutter, fühlte den festen Körper unter dem Stoff und gab die Vorstellung auf, daß es ein Traum sei. Es war Wirklichkeit. Ihre Brüder hatten sie nicht zu Hause abgeholt — das konnte nicht Wirklichkeit gewesen sein, nicht wahr? —, sondern sie mit dem Aufzug heraufgebracht, und nun war sie bei ihrer Mutter, die sie warm und liebevoll empfing und ihr Essen vorsetzte.
Und über der Schulter ihrer Mutter, außerhalb der breiten Fenster, die veränderte Stadt. Das konnte sie sich nicht einbilden, oder?
Sie löste sich von ihrer Mutter, wischte sich die Augen und blickte von ihr zu Kenneth und Howard. »Was geht vor, Mutter?«
»Als ich dich das letzte Mal sah, waren wir in der Küche«, sagte ihre Mutter und betrachtete sie von Kopf und Fuß. »Ich war damals nicht sehr gesprächig. Vieles geschah gleichzeitig.«
»Du warst krank«, sagte Suzy.
»Ja… und nein. Komm, setz dich! Du mußt sehr hungrig sein.«
»Ich habe zwei Wochen geschlafen. Ich hätte verhungern müssen«, sagte sie.
»Sie glaubt es noch immer nicht«, sagte Howard grinsend.
Ihre Mutter winkte ab. »Still! Ihr würdet es auch nicht glauben, keiner von euch beiden.«
Sie gaben es zu.
»Aber ich bin doch hungrig«, sagte Suzy. Kenneth zog ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich vor ein makelloses Tischgedeck aus feinem Porzellan und Silber.
»Wir haben es wahrscheinlich zu vornehm gemacht«, sagte Howard. »Zu sehr wie einen Traum.«
»Ja«, sagte Suzy. Sie fühlte sich benommen, glücklich, und inzwischen war ihr gleich, was wirklich und was nicht wirklich war. »Ihr Clowns habt übertrieben.«
Ihre Mutter häufte Schinken und Salate auf Suzys Teller, und Suzy zeigte auf das Kartoffelmus und die Bratensoße.
»Zum Mästen«, sagte Kenneth.
Suzy schnalzte, führte die erste Gabel voll Schinken zum Mund und kaute darauf. Echt. Der Biß der Zähne auf die Gabeclass="underline" echt. »Wißt Ihr, was geschehen ist?«
»Nicht alles«, sagte ihre Mutter und setzte sich zu ihr.
»Wir können jetzt viel klüger sein, wenn wir wollen«, sagte Howard. Einen Augenblick lang fühlte Suzy sich verletzt; meinte er sie? Howard hatte sich immer seiner Noten geschämt, er war ein fleißiger Schüler gewesen, der sich angestrengt hatte, aber er war alles andere als begabt. Immerhin war er noch klüger als seine langsame Schwester.
»Wir brauchen nicht mal unsere Körper«, sagte Kenneth.
»Nicht so schnell!« ermahnte ihre Mutter sie. »Es ist sehr verwickelt, liebes Kind.«
»Wir sind jetzt Dinosaurier«, sagte Howard und nahm sich im Stehen vom Schinken. Dann machte er ein Gesicht und ließ den Bissen wieder fallen.
»Als wir krank waren…«, begann ihre Mutter.
Suzy legte die Gabel aus der Hand und kaute nachdenklich. Sie hörte nicht auf ihre Mutter, sondern lauschte anderen Stimmen, die von innen kamen.
Heilen dich
Pflegen dich.
Brauchen…
»Ach du lieber Gott«, murmelte sie mit vollem Mund. Sie schluckte und blickte zu den anderen. Sie hob die Hand. Weiße Schwielen zogen sich über den Handrücken und die Gelenke, verloren sich in schwach ausgeprägten Verzweigungen unter der Haut ihres Armes.
»Sei nicht bange, Suzy«, sagte ihre Mutter. »Bitte ängstige dich nicht. Sie ließen dich in Ruhe, weil sie nicht in deinen Körper eindringen konnten, ohne dich zu töten. Du hast eine ungewöhnliche Chemie, mein Kind. Du und ein paar andere. Das ist jetzt kein Problem mehr. Aber du hast die Wahl, Kind. Hör auf uns… und auf sie! Sie sind jetzt viel mehr verfeinert, Suzy, viel klüger als sie zur Zeit unserer… Umwandlung waren.«