Bernard nickte. Sag es ihm.
»Die Papiere waren sehr wichtig für mich, Vater. Papa.«
Er hatte ihn seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr »Papa« genannt. Aber der alte Mann hörte nicht. Er war eingeschlafen. Bernard nahm Mantel und Koffer und ging, schaute in die Station und fragte die Schwester aus Gewohnheit, wann die nächste Verabreichung sein würde.
Sein Vater starb am nächsten Morgen um drei Uhr früh, im Schlaf und allein.
Und weiter…
Olivia Ferguson, die gleichen wundervoll glatten achtzehn Jahre alt wie er, ihr Vorname wie ein Echo ihres Teints, ihr dichtes dunkles Haar an der Kopfstütze der Corvette, blickte ihn aus ihren großen grünen Au gen an und lächelte. Er erwiderte den Blick und das Lächeln, und es war der herrlichste Abend auf der Welt, es war phantastisch; das dritte Mal, daß er mit einem Mädchen verabredet war. Er war, Wunder über Wunder, eine Jungfrau — und diesen Abend schien es nichts auszumachen. Er hatte sie beim Glockenturm des Universitätscampus von Berkeley angesprochen, als sie bei einem der bronzenen Zwillingsbären gestanden hatte, und sie hatte ihn dabei mit echter Sympathie angeschaut.
»Ich bin verlobt«, hatte sie gesagt. »Das heißt, es kann nichts daraus werden…«
Enttäuscht und doch stets bereit, galant zu sein, hatte er gesagt: »Nun, dann wird es eben bloß ein unterhaltsamer Abend. Unter Freunden.« Er kannte sie kaum; sie hatte einen der Kurse belegt, die auch er besuchte. Sie war das schönste Mädchen von allen, groß und gefaßt, ruhig und selbstsicher, doch nicht im mindesten eingebildet. Sie hatte lächelnd eingewilligt.
Und nun fühlte er die Freiheit, entlassen aus der Verpflichtung, einen Erfolg zu erringen. Zum ersten Mal fühlte er sich mit einer Frau auf gleichen Fuß gestellt. Ihr Verlobter, so erläuterte sie, war bei der Marine, stationiert auf der Marinewerft in Brooklyn. Ihre Familie wohnte auf Staten Island, in einem Haus, wo Herman Melville einmal einen Sommer verbracht hatte.
Der Wind blies in ihr Haar, ohne es in Unordnung zu bringen — wunderbares, prachtvolles Haar, das (theoretisch) köstlich anzufühlen wäre, ein Genuß, es durch die Finger gleiten zu lassen. Sie hatten sich unterhalten, seit er sie zu Haus abgeholt hatte, in einer Wohnung, die sie mit zwei Frauen teilte und die nahe dem alten weißen Hotel Clairemont lag. Sie waren über die Golden Gate-Brücke gefahren, um in einem kleinen Fischrestaurant, dem Klamshak, zu essen, und dort hatten sie über alles mögliche gesprochen — über Studienkurse, Pläne, was es mit dem Heiraten auf sich habe (er wußte es nicht und bemühte sich nicht einmal, Kenntnisse oder Erfahrungen vorzutäuschen). Sie waren übereingekommen, daß das Essen gut sei, und die Einrichtung des Lokals nicht im mindesten originell — Netze und Korkschwimmer an der Wand, in den Maschen Plastikhummer und ein abgenutzt aussehender getrockneter Kugelfisch, ein alter durchlöcherter Fischerkahn vor dem Eingang auf muschelbestreutem Sand. Nicht ein einziges Mal kam er sich unbeholfen oder jung oder auch nur unerfahren vor.
Als sie über die Brücke zurückfuhren, dachte er, daß sie sich unter anderen Umständen gewiß ineinander verlieben und in ein paar Jahren heiraten würden. Sie war überwältigend — und er konnte und wollte nichts versuchen. Seine Empfindungen angesichts dieser Lage waren traurig und romantisch und insgesamt wundervoll.
Wenn er sie drängte, würde sie vielleicht mit ihm auf sein Zimmer gehen, und sie würden miteinander schlafen.
Doch obwohl er es als Makel empfand, unerfahren zu sein, wollte er sie nicht drängen. Er würde es nicht einmal andeuten. Die Stimmung dieses Abends war zu vollkommen.
Sie saßen vor dem umgebauten alten Herrenhaus, wo sie wohnte, noch eine Weile im Wagen, diskutierten über Kennedy und lachten über ihre Ängste während der Raketenkrise, und dann hielten sie einander bei den Händen und schauten sich in die Augen.
»Weißt du«, sagte er leise, »es gibt Zeiten, wo…« Er brach ab.
»Danke«, sagte sie. »Ich dachte mir gleich, daß du dich bei einer Verabredung anständig benehmen würdest. Die meisten Männer, weißt du…«
»Ja. Nun, so bin ich eben.« Er grinste. »Harmlos.«
»O nein. Nicht harmlos. Nicht im mindesten.«
Dies war der Wendepunkt. Es konnte so gehen, oder so. Er warf einen Blick auf ihre olivfarbene Haut und wußte, daß sie glatt war, jugendlich vollkommen. Er wußte auch, daß sie mit ihm auf sein Zimmer gehen würde.
»Du bist ein Romantiker, nicht wahr?« sagte sie.
»Ich glaube, das bin ich.«
»Ich auch. Die einfältigsten Leute auf der Welt sind Romantiker.«
Er fühlte Wärme in Hals und Gesicht emporsteigen. »Ich mag Frauen«, sagte er. »Ich mag die Art, wie sie sprechen und sich bewegen. Sie sind bezaubernd.« Er schloß sich ihr auf, um es später zu bedauern, aber seine Empfindung war zu wahr und unleugbar, besonders nach diesem Abend. »Ich glaube, die meisten Männer sollten spüren, daß eine Frau wie… wie geheiligt ist.
Nicht auf einem Postament, nicht in dieser Art. Aber einfach zu schön für Worte. Von einer Frau geliebt zu werden und… Das wäre einfach unglaublich.«
Olivia schaute durch die Windschutzscheibe, und ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Dann senkte sie den Blick auf ihre Handtasche und strich ihr wadenlanges blaues Kleid glatt. »Es wird geschehen«, sagte sie.
»Ja, sicher«, sagte er. Aber nicht zwischen uns.
»Danke«, sagte sie wieder. Er ließ ihre Hand los und hob sie, um ihr die Wange zu liebkosen. Sie rieb sich wie ein Kätzchen an seiner Hand und zog am Türgriff. »Wir sehen uns im Kurs.«
Sie hatten sich nicht mal geküßt.
— Was ist seitdem mit mir geschehen? Drei Ehefrauen — die dritte, weil sie wie Olivia aussah — und diese Di stanz, diese unüberbrückbaren Abstände. Ich habe bei weitem zu viele Illusionen verloren.
Es gibt Optionen.
— Ich verstehe nicht.
Was würdest du gern revidieren?
— Wenn ihr zurückgehen meint, ich sehe nicht, wie das geschehen sollte.
Hier im Gedankenuniversum ist alles möglich. Simulationen. Rekonstruktionen nach deinem Gedächtnis.
— Ich könnte ein weiteres Leben durchleben? Wenn Zeit ist.
— Mit der echten Olivia? Sie… wo war sie, ist sie? Das ist nicht bekannt.
— Dann werde ich es lieber sein lassen. An Träumen bin ich nicht interessiert.
Es gibt mehr Erinnerungen in dir.
— Ja…
Aber wo paßten sie hinein, wo kamen sie her?
Randall Bernard, vierundzwanzig, hatte Tiffany Marnier am siebzehnten November 1943 in einer kleinen Kirche in Kansas City geheiratet. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit silbernen Perlen und einem weißen Spitzenüberwurf, den schon ihre Mutter zur Hochzeit getragen hatte, keinen Schleier, und die Blumen waren blutrote Rosen gewesen. Sie hatten…
Sie nippten vom Kelch mit Wein, tauschten ihre Gelübde aus und brachen ein Stück Brot, und der Geistliche, ein Theosoph, der sich im Laufe des nächsten Jahrzehntes zum Anhänger der indischen Vedanta wandeln sollte, erklärte sie für gleich in den Augen der Gottheit und nunmehr vereint durch gegenseitige Liebe und die rechtliche Bindung des Ehestands.
Die Erinnerung war verfärbt wie eine alte Fotografie, und nicht gut in Details. Aber sie war da, obwohl er damals noch nicht einmal geboren war, und er sah es, und sah dann ihre Hochzeitsnacht, bestaunte, was sich in flüchtigen Einblicken offenbarte und möglicherweise seine eigene Erschaffung war, und wie wenig sich zwischen Mann und Frau geändert hatte, bestaunte seiner Mutter Leidenschaft und seines Vaters präzise, wissende Geschicklichkeit, selbst im Bett ein Arzt…