Und sein Vater zog in den Krieg, drang mit Pattons Dritter Armee durch die Ardennen vor, erlebte die erbitterten Kämpfe und überschritt schließlich den Rhein bei Koblenz, und sein Sohn sah, was er nicht gesehen haben konnte. Und dann sah er, was sein Vater nicht gesehen haben konnte:
Ein Soldat in Reithosen, der den dunklen, feuchten Hausgang eines Pariser Bordells betrat; weder sein Vater noch sonst jemand, den er kannte…
Sehr trübe, aber klar in den Umrissen, eine Frau, die ihr Kind wiegte, beschienen von orangefarbenem Sonnenlicht, das durch ein Fenster aus getrockneter Fischblase drang…
Einen Mann, der im Grau des frühen Morgens mit Kormoranen in einem Fluß fischte…
Ein Kind, das vom Heuboden eine Gruppe von Männern beobachtete, die unten auf dem Hof einen großen, ängstlich glotzenden, schwarzweiß gefleckten Ochsen umstanden und sich anschickten, ihn zu schlachten…
Männer und Frauen, die ihre langen weißen Gewänder ablegten und in einem lehmigen, von roten Sandsteinfelsen gesäumten Fluß schwammen…
Einen Mann, der auf einer Klippe stand, den Hornbogen in der Hand, und eine Antilopenherde beim Durchqueren einer dunstigen Steppenebene beobachtete…
Eine Frau, die in einem dunklen unterirdischen, von Talglampen erhellten Raum ein Kind gebar, umringt von beschmierten, sorgenvollen Gesichtern…
Zwei alte Männer, die über Lehmkugeln in einem in den Sand gezogenen Kreis stritten…
— Ich erinnere diese Dinge nicht. Sie haben nichts mit mir zu tun. Ich erlebte sie nicht.
Er riß sich los vom Informationsstrom. Mit beiden Händen reichte er hinauf zu rotglühenden Kreisen über seinen Kopf, die so warm und attraktiv waren. Woher kamen sie? Er berührte die Kreise und spürte die Antwort in seinem hundertzelligen Körper.
Nicht alle Erinnerung kommt aus dem Leben eines Individuums.
— Woher dann?
Erinnerung ist gespeichert in Neuronen — wechselwirkende Erinnerung, bewahrt als Ladung und Potential, dann abgeladen in chemische Speicherung in Zellen, darauf weiterverfrachtet auf die molekulare Ebene. Gespeichert von den Intronen einzelner Zellen.
Die Einsicht war in ihrer Vollständigkeit und Intensität geradezu quälend.
Symbiotische Bakterien und Trägerviren, die von Natur aus in allen Tieren vorkommen und für jede Art bestimmte Funktionen entwickelt haben, werden mit molekularer Erinnerung, die von den Intronen übertragen wird, versehen. Sie verlassen das Individuum und gehen auf ein anderes über, »infizieren« die somatischen Zellen mit der Erinnerung. Einige der Erinnerungen kehren dann in den chemischen Speicher zurück, und ein paar werden wieder zu aktiver Erinnerung.
— Über Generationen hinweg?
Über Jahrtausende hinweg.
— Die Intronen sind nicht Sequenzen ohne Merkmalausprägung…
Nein, sie sind hochverdichtete Gedächtnisspeicher.
Vergil Ulam hatte Biologik in Zellen nicht aus dem Nichts geschaffen. Er war auf eine natürliche Funktion gestoßen — die Übertragung rassischer Erinnerung. Er hatte ein bereits existierendes System verändert.
— Es ist mir gleich! Keine Enthüllungen mehr, keine Einsichten mehr. Ich habe genug. Was ist aus mir geworden? Was nützt Offenbarung, wenn sie an einen Dummkopf verschwendet wird?
Er war wieder im Rahmenwerk des Gedankenuniversums. Er sah sich zwischen den Bildern um, den symbolischen Ursprüngen verschiedener Zweige von Information, dann zu den Ringen über seinem Kopf. Sie glommen jetzt grün.
Du bist BEKÜMMERT. Berühre sie!
Er reichte hinauf und berührte sie wieder.
Mit einem Ruck streckte er sich aus in die Zwischenschicht und begann, sich in den Bernard des Makro-Maßstabs zu integrieren; den Tunnel der Auflösung hinauf in die warme Dunkelheit des Laboratoriums. Es war Nacht — oder jedenfalls Schlafenszeit.
Er lag auf seinem Feldbett, kaum in der Lage, einen Arm zu bewegen.
Wir können deine Körperform nicht länger erhalten.
— Was?
Du wirst bald wieder in unseren Bereich zurückgezogen werden, innerhalb von zwei Tagen. All deine Arbeit im Makro-Maßstab muß bis dahin abgeschlossen sein.
— Nein…
Wir haben keine Wahl. Wir haben es lange genug hinausgezögert. Wir müssen umwandeln.
»Nein! Ich bin nicht bereit! Das ist zuviel!« Er merkte, daß er schrie, und die Angst gab ihm die Beweglichkeit zurück. Er fuhr hoch und saß auf dem Rand des Feldbettes, das grotesk von Schwielen verformte Gesicht schweißtriefend.
40
»Wollt ihr wieder gehen? Einfach weggehen?« Suzy hielt die Hand des Bruders fest. Kenneth machte vor dem Aufzug halt. Die Tür ging auf.
»Es ist hart, einfach wieder menschlich zu sein, weißt du«, sagte er. »Es ist einsam. Also werden wir zurückgehen, ja.«
»Einsam? Und wie, glaubt ihr, wird mir zumute sein? Ihr seid wieder tot.«
»Nicht tot, Sämling. Du weißt das.«
»Ihr könntet es genausogut sein.«
»Warum kommst du nicht zu uns?«
Suzy begann zu zittern. »Kenny, ich fürchte mich.«
»Sieh mal, sie haben dich verlassen, wie du wolltest. Und sie werden dich gehen lassen. Obwohl ich nicht weiß, was du dort draußen anfangen willst. Die Stadt ist nicht mehr für Menschen gemacht. Du wirst ernährt und wirst leben, aber… Suzy, alles verändert sich. Die Stadt wird sich noch mehr verändern. Du wirst im Wege sein… aber sie werden dir nicht weh tun. Wenn du es so willst, werden sie dich wie einen Nationalpark unter Schutz stellen.«
»Komm mit mir, Kenny! Du und Howard und Mama! Wir könnten zurückgehen…«
»Brooklyn existiert nicht mehr.«
»Mein Gott, du bist wie ein Geist oder was. Ich kann nicht vernünftig mit dir reden.«
Kenny zeigte zum Aufzug. »Sämling…«
»Hör auf, mich so zu nennen, verdammt! Ich bin deine Schwester, du Gruselgespenst! Ihr wollt mich da draußen einfach allein lassen…«
»Das ist deine Wahl, Suzy«, sagte Kenneth.
»Oder mich zu einer Gliederpuppe machen.«
»Du weißt, daß wir keine Gliederpuppen sind, Suzy. Du fühltest, wie sie sind, was sie für dich tun können.«
»Aber ich würde nicht mehr ich sein!«
»Hör auf zu jammern! Wir alle verändern uns.«
»Nicht so!«
Kenneth sah geschmerzt aus. »Als kleines Mädchen warst du nicht so. Hattest du jemals Angst, erwachsen zu werden?«
Sie starrte ihn an. »Ich bin immer noch ein kleines Mädchen«, sagte sie. »Ich bin langsam. Alle sagen das.«
»Hattest du jemals Angst, aus dem Kindesalter herauszukommen? Das ist der Unterschied. Wir haben diese Angst nicht und konnten uns weiterentwickeln. Du könntest auch erwachsen werden.«
»Nein«, sagte Suzy und wandte sich vom Aufzug weg. »Ich gehe zurück und spreche mit Mama.«
Kenny hielt sie am Arm zurück. »Sie sind nicht mehr da«, sagte er. »Es ist sehr anstrengend, so wiedererbaut zu sein.«
Suzy starrte ihn mit offenem Mund an, dann sprang sie in den Aufzug und drückte sich gegen die Rückwand. »Fährst du mit mir hinunter?«
»Nein. Ich gehe zurück. Wir lieben dich noch immer, Sämling. Wir werden über dich wachen. Du wirst mehr Mütter und Brüder und Freunde haben, als du jemals wissen wirst. Und vielleicht wirst du uns einmal bei dir aufnehmen.«
»Du meinst, in mich aufnehmen, wie die anderen?«
Kenneth nickte. »Wir werden immer in der Nähe sein. Aber wir werden unsere Körper nicht für dich wiedererbauen.«
»Ich möchte jetzt nach unten«, sagte sie.
»Also abwärts«, sagte Kenneth. Die Aufzugtüren begannen sich zu schließen. »Leb wohl, Suzy! Sei vorsichtig!«