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Oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, den belagerten Komplex zu verlassen und einfach nach Hause zu gehen, oder sich eine Weile in sein Ferienhaus in Spanien zurückzuziehen. Zu vergessen, was geschehen war und was sein Freund Michael Bernard mit sich nach Deutschland gebracht hatte.

Aber Heinz Paulsen-Fuchs war zu lange im Geschäft, und sein Verantwortungsgefühl ließ nicht zu, daß er sich in dieser schwierigen Lage einfach davonmachte.

Als blutjunger Mensch hatte er die Schlacht um Berlin und das Eindringen der Russen miterlebt. Danach war er bemüht gewesen, den ausgenutzten Idealismus seiner Jugend und die Schreckensbilder, in denen er untergegangen war, zu verdrängen und zu allen Fragen des Zeitgeschehens eine möglichst schwer klassifizierbare Haltung einzunehmen, doch war er vor keiner Gefahr und Herausforderung zurückgewichen. Er war bis 1955 in Berlin geblieben, als er und zwei andere die Pharmek gegründet hatten. Die Firma war im Anschluß an die Contergan-Panik beinahe untergegangen; aber er war nicht zurückgewichen.

Nein, er wollte sich nicht vor der Verantwortung drücken. Er selbst würde den Schalter betätigen, der die sterilisierenden Gase in die Isolierkammer einströmen ließ. Er selbst wollte die Männer des Desinfektions- und Aufräumungstrupps instruieren und beaufsichtigen. Andere mochten darin eine Niederlage sehen, aber er wußte, was die Pflicht von ihm verlangte. Sich in kritischen Situationen nach Spanien abzusetzen, wäre erbärmlich und seiner unwürdig.

Er hatte keine Ahnung, was die protestierende Menge tun würde, sobald Bernard tot wäre. Er verließ den Beobachtungsraum und setzte sich an den Monitor, über dessen Mattscheibe Bernards Botschaft lief.

Er ließ sie noch einmal von vorn anfangen. Er konnte schnell genug lesen, um mit den Worten Schritt zu halten. Wichtig erschien ihm vor allem der Zusammenhang dessen, was Bernard bereits gesagt hatte, mit seinen letzten Äußerungen, um zu sehen, ob sich mehr darin finden ließ als die isolierten Äußerungen erkennen ließen.

Bernards letzte elektronische Tagebucheintragungen, beginnen 08:35: Gogarty. Innerhalb von Wochen werden sie verschwunden sein.

Ja, sie kommunizieren. Kleine Verwandte. Ausbrüche der »Seuche«, der wir uns nicht einmal bewußt sind Europa, Asien, Australien — Menschen ohne Symptome. Augen und Ohren, die sammeln, lernen, die unermeßliche Ernte unserer Leben und Geschichte einbringen. Großartige Spione.

Heinz — rassische Erinnerung. Derselbe Mechanismus wie Biologik. In jedem von uns sind viele Leben; im Blut, im Gewebe.

Belastung lokaler Raumzeit. Zu viele. Direkt durchstoßen… sie können nicht anders. Müssen den Vorteil nutzen. Wir — Sie — können und würden sie vielleicht nicht aufhalten wollen.

Sie sind die großartige Leistung. Sie lieben. Sie arbeiten zusammen. Sie haben Disziplin, sind jedoch frei; sie kennen den Tod, sind aber unsterblich.

Sie kennen mich durch und durch. All meine Gedanken und Regungen. Ich bin ein Thema in ihrer Kunst, ihrer wundervollen lebendigen »Fiktionen«. Sie haben mich millionenfach dupliziert. Welches Ich schreibt dies? Ich weiß es nicht. Es gibt kein Original mehr.

Ich kann in eine Million Richtungen gehen, eine Million Leben führen (und nicht bloß in der »Blutmusik«, sondern in einem Universum des Denkens, der Phantasie!), und dann meine Selbste sammeln, eine Konferenz veranstalten und wieder von vorn beginnen. Narzißmus jenseits des Stolzes; Verwandtschaft und Nähe, bei weitem großartiger als einfach ewig zu leben. (Sie haben sie gefunden!)

Jeder von ihnen kann tausend, zehntausend, eine Million Gegenstücke haben, je nach ihrer Qualität, ihrer Funktion. Niemand braucht zu sterben, aber mit der Zeit werden sich alle oder annähernd alle verändern. Die meisten der Million Ichs werden im Laufe der Zeit jede Ähnlichkeit mit dem gegenwärtigen Ich verlieren, denn wir sind unendlich variabel. Unser Verstand arbeitet an der unendlichen Vielfalt des Lebens und seiner Fundamente.

Heinz, ich wollte, Sie könnten sich uns anschließen.

Wir sind uns des Drucks bewußt, unter dem Sie stehen.

(Textunterbrechung 08:47-10:23)

Kein Tippen auf die Tasten. In die Tastatur, in die Elektronik.

Weiß, Sie müssen vernichten.

Warten Siel Warten Sie bis 11:30! Geben Sie einem alten Freund diese Frist!

Mein altes Selbst gefällt mir nicht, Heinz. Ich habe es größtenteils aufgegeben. Verwelkte Stücke gestutzt. Ganze Abschnitte meiner zweiundfünfzig Jahre neu gelebt und neu geformt. Man könnte hier ein Heiliger werden, ohne eine Vielzahl von Sünden zu erforschen. Welcher Heilige weiß nichts von Sünde?

(Textunterbrechung 10:35-11:05)

Gogarty.

CGATCATTAG (UCAGCUGOGAUCGAA) Name jetzt.

Gogarty. Erstaunlich, viel zu dicht, viel zu viel sehen, theoretisieren, viel zu viel Sein. Sie wissen in Nordamerika. Bis zum kleinsten haben sie Nordamerika ausgespäht. Unterrichten uns, bereiten vor. Alle gehen zusammen. In tödlicher Furcht, wundervoller Furcht, der feinsten Furcht, Heinz, nicht in den Gedärmen gefühlt, sondern in Gedanken überlegt, nichts kommt ihr gleich. Furcht vor Freiheit jenseits der Beschränkungen jetzt, und scheinbar schon wundervoll frei. Soviel Freiheit, daß wir verändern müssen, um unterzubringen. Unkenntlich.

Heinz 11:30 soviel Zeit.

11:30 11:30 11:30!

Solch ein Ansturm von Gefühl für das Alte, Zuneigung des Huhnes zum Ei, des Menschen zur Mutter, des Schülers zur Schule.

Verzweigung. Jemand anders übernimmt das Schreiben.

Begegnung mit meinen Selbsten. Befehlsgruppen koordinieren. Feier. So viel, so reichhaltig! Drei von mir bleiben zu schreiben, bereits sehr verschieden. Freunde zurück vom Urlaub. Trunken von Erfahrung der Freiheit, des Wissens.

Olivia, wartend…

Und Heinz, dies ist ein hinterwäldlerischer Noozytenslum, nicht wie Nordamerika. Bald kommt Neues Jahr!

NOVA

(Textende 11:26)

Heinz Paulsen-Fuchs las die letzten Worte vom Bildschirm ab und zog die Brauen hoch. Die Hände auf den Armlehnen des Sessel, blickte er zur Wanduhr auf.

11:26:46

Er blickte zu Dr. Schatz und stand auf. »Öffnen Sie die Tür!« sagte er.

Sie streckte die Hand zum Schalter aus und öffnete die Tür zum Beobachtungsraum.

»Nein«, sagte er. »Zum Labor!«

Sie zögerte.

11:26.52

Er eilte zur Konsole, stieß sie beiseite und betätigte in rascher Folge die drei Schalter.

11:27.56

Die Dreischichtenluke begann sich schwerfällig in Bewegung zu setzen.

»Herr Paulsen-Fuchs!«

Er schlüpfte durch die Öffnung in den äußeren Isolationsbereich, noch frostig vom Vakuum, und in den Hochdruckbereich, daß es in seinen Ohren knackte. Von dort mit wenigen Schritten in die Isolierkammer.

11:29.32

Der Raum war von Feuer erfüllt. Einen Augenblick dachte Paulsen-Fuchs, daß Dr. Schatz eine geheimnisvolle Notreinigung begonnen und alles in der Kammer getötet habe.

Aber sie hatte nicht.

11:29.56

Das Feuer erlosch, hinterließ Ozongeruch und etwas wie eine verbogene Linse in der Luft über dem Bett.

Das Feldbett war leer.

11:30.00