Er fand es lächerlich einfach, den Renaldicode zu knacken, der Genetrons vertrauliche Akten sicherte. Für ihn bargen die Gödelzahlen und Reihen scheinbar willkürlicher Ziffernkombinationen, die auf dem Bildschirm erschienen, keine Geheimnisse. Er schlüpfte in die Zahlen und Informationen wie ein Seehund ins Wasser.
Er fand seine Personalakte und schaltete eine Schlüsselgleichung für den Code dieses Abschnitts. Dann beschloß er sicherzugehen — es bestand immer die Möglichkeit, so gering sie auch war, daß jemand genauso neugierig und einfallsreich war wie er. Er löschte die Akte vollständig.
Nächster Punkt auf der Tagesordnung waren die Beiträge für die Betriebskrankenkasse. Er änderte seine Versicherungsbedingungen und machte die Änderung unkenntlich. Nachforschungen von außen würden ergeben, daß er selbst nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses voll weiterversichert war, und daß er keine Beiträge zahlte, würde niemals Gegenstand von Fragen sein.
Er sorgte sich um solche Dinge, denn sein Gesundheitszustand war nie ganz zufriedenstellend.
Eine Weile beschäftigte ihn die Überlegung, welche anderen Streiche er der Firma spielen könnte, doch entschied er sich dagegen. Er war nicht rachsüchtig. So schaltete er den Datenanschluß ab und zog den Stecker.
Überraschend wenig Zeit — zwei Tage — verging, bis die Löschung bemerkt wurde. Als er eines Morgens zur Arbeit kam, fing Rothwild ihn schon im Foyer ab und erteilte ihm Hausverbot. Vergil protestierte halbherzig und sagte, er habe eine Schachtel mit persönlichen Habseligkeiten, die er mitnehmen wolle.
»Meinetwegen, aber das ist alles. Keine Arbeitsmaterialien. Ich werde alles kontrollieren.«
Vergil erhob keine Einwände. »Was ist jetzt los?« fragte er.
»Offen gesagt, ich weiß es nicht«, erwiderte Rothwild. »Und ich will es auch nicht wissen. Ich habe mich für Sie eingesetzt. Ebenso wie Thornton. Sie sind eine große Enttäuschung für uns alle.«
Vergil überlegte fieberhaft. Er hatte die Lymphozyten nicht entfernt, da er sie unter dem tarnenden Etikett im Laborkühlschrank hinreichend sicher gewähnt hatte. Daß man ihn so schnell vor die Tür setzen würde, hatte er nicht erwartet. »Ich bin draußen?«
»Sie sind draußen, und ich fürchte, Sie werden es schwierig finden, in einem anderen Laboratorium der Privatindustrie Beschäftigung zu finden. Harrison ist wütend.«
Hazel Overton war bereits an der Arbeit, als sie das Labor betraten. Vergil nahm die Schachtel an sich, die er in der neutralen Zone bei der Spüle deponiert hatte, und verdeckte das Etikett mit der Hand. Während er sie hielt, zog er unauffällig das Klebeband ab, knüllte es zusammen und ließ es in den Abfalleimer fallen. »Noch etwas«, sagte er. »Ich habe ein paar mit markierten Verbindungen versetzte Laborversager, die ordnungsgemäß beseitigt werden sollten. Radioisotope.«
»Ach du liebe Zeit«, sagte Hazel. »Wo?«
»Im Kühlschrank. Keine Sorge — bloß Karbon-14. Darf ich?« Er schaute zu Rothwild. Er bedeutete ihm, die Schachtel auf den Tisch zu legen, daß er sie untersuchen könne. »Darf ich?« wiederholte Vergil. »Ich möchte nichts dalassen, was schädlich sein könnte.«
Rothwild nickte widerwillig. Vergil ging zum Kühlschrank und warf seinen Laborkittel auf den Arbeitstisch. Dann ließ er die Hand über eine offene Schachtel mit Injektionsspritzen streifen und nahm unauffällig eine heraus.
Das Kissen mit den Lymphozyten in ihren Reagenzgläsern war im untersten Regal. Vergil kniete nieder und zog ein Glas heraus. Rasch stieß er die Spritze durch den Wattestöpsel und zog zwanzig Kubikzentimeter vom Serum auf. Die Spritze war nie zuvor benutzt worden, also schien die Annahme gerechtfertigt, daß die Kanüle einigermaßen steril sein würde; er hatte keine Zeit, sie mit Alkohol zu sterilisieren, mußte das Risiko auf sich nehmen.
Bevor er sich die Nadel in die Armvene stieß, überlegte er flüchtig, was er zu tun im Begriff sei, und was er damit zu gewinnen hoffte. Die Aussichten, daß die Lymphozyten überleben würden, waren sehr gering. Es war möglich, daß seine Veränderungen sie hinreichend umgewandelt hatten und sie in seinem Blut entweder absterben würden, unfähig, sich anzupassen, oder als Fremdkörper von seinem eigenen Immunsystem zerstört würden.
So oder so betrug die Lebensspanne einer aktiven Lymphozyte im menschlichen Körper bestenfalls einige Wochen. Das Leben war hart für die Polizisten des Körpers.
Die Nadel drang ein. Er fühlte den Stich, ein kurzes Brennen, dann das Einströmen der kalten Flüssigkeit, die sich mit seinem Blut vermischte. Als die Spritze leer war, zog er sie heraus und legte sie unten in den Kühlschrank. Das Kissen mit Reagenzgläsern und die Spinnerflasche in der Hand, stand er auf und schloß die Tür. Rothwild beobachtete ihn in nervöser Ungeduld, als Vergil Gummihandschuhe überzog und den Inhalt der Gläser in ein zur Hälfte mit Äthanol gefülltes Becherglas goß. Dann fügte er die Flüssigkeit aus der Flasche hinzu, verschloß das Becherglas und schüttelte es lächelnd, um den Inhalt zu vermischen. Schließlich legte er es in einen geschützten Abfallkasten. Diesen schob er mit dem Fuß zu Rothwild. »Da haben Sie«, sagte er.
Rothwild hatte die Aufzeichnungen durchgeblättert. »Ich bin fast der Meinung, daß diese Hefte in unserem Besitz bleiben sollten«, sagte er. »Für die Arbeit daran haben Sie viel von unserer Zeit aufgewendet.«
Vergils einfältiges Lächeln veränderte sich nicht. »Dann werde ich Genetron auf Herausgabe verklagen und in jeder Zeitschrift, die ich kenne, Schmutz ausbreiten. Nicht gut für Ihre Marktposition, nicht wahr?«
Rothwild musterte ihn unter halbgeschlossenen Lidern, während sein Hals und seine Wangen sich rosa verfärbten. »Machen Sie, daß Sie fortkommen!« sagte er. »Wir werden Ihnen den Rest Ihrer Sachen später nachsenden.«
Vergil nahm die Schachtel an sich. Das kalte Gefühl in seinem Unterarm war jetzt vergangen. Rothwild eskortierte ihn die Treppe hinab und den Fußweg entlang zum Tor. Walter ließ sich die Plakette aushändigen, mit unbewegter Miene, und Rothwild folgte Vergil zum Parkplatz.
»Denken Sie an die Bedingungen Ihres Vertrages«, sagte Rothwild. »Vergessen Sie nicht, was Sie sagen und was Sie nicht sagen können.«
»Eins kann ich sicherlich sagen, glaube ich«, sagte Vergil, bemüht, die Worte klar auszusprechen, obwohl der Zorn ihm die Kehle zuschnürte.
»Und was ist das?«
»Leckt mich am Arsch! Alle miteinander!«
Vergil fuhr am Genetron-Firmenschild vorbei und dachte an alles, was hinter jenen nüchternen Wänden geschehen war. Er blickte zu dem schwarzen Würfelgebäude jenseits, kaum sichtbar hinter einer Pflanzung von Eukalyptusbäumen.
Fast alles sprach dafür, daß das Experiment beendet war. Innere Anspannung, Zorn und Enttäuschung verursachten ihm Übelkeit. Und dann dachte er an die Milliarden von Lymphozyten, die er soeben zerstört hatte, und seine Übelkeit verstärkte sich so, daß er schlucken mußte, um den sauer aufsteigenden Geschmack in seiner Kehle zurückzudrängen.
»Leckt mich am Arsch!« murmelte er, »denn alles, was ich anfasse, ist beschissen.«
4
Die Menschen, dachte Vergil bei sich, als er auf einem Barhocker saß und das Geschiebe auf der Tanzfläche beobachtete, waren eine geile Bande. Schmalzige Sphärenklänge und rotierende bernsteinfarbene Lichteffekte hielten die dicht gedrängten männlichen und weiblichen Körper in träge wogender Bewegung. Über der Theke summte und gurgelte eine erstaunliche Anordnung polierter Messingrohre mit Hähnen zur Getränkeabfüllung: meistens offene Weine, die glasweise verkauft wurden; und siebenundvierzig verschiedene Kaffeesorten. Kaffee wurde viel verlangt; der Abend war in den frühen Morgen übergegangen, und bald würde das Lokal schließen.
Letzte Annäherungsversuche geschahen unverhüllter und angestrengter, mit mehr Verzweiflung und weniger Finesse; neben Vergil gelobte ein kleinwüchsiger Bursche in zerknittertem blauen Anzug einem geschmeidigen schwarzhaarigen Mädchen mit asiatischen Zügen seine Treue für eine Nacht. Vergil fühlte sich abgelöst von alledem, distanziert. Er hatte den ganzen Abend hindurch keine Frau angesprochen, und er war seit sieben im Lokal. Und keine Frau hatte ihn angesprochen.