»Kleiner als sie selbst.«
»Um einen noch größeren Faktor kleiner als unsere Größe verglichen mit einer Galaxis.«
»Sie sprechen von Quantenlängen?« Paulsen-Fuchs wußte nicht viel von diesen Dingen, doch war er auch nicht völlig ahnungslos.
Gogarty nickte. »Nun ergibt es sich, daß das sehr Kleine meine Spezialität ist. Darum wurde ich gebeten, an dieser Noozyten-Untersuchung teilzunehmen. Der größte Teil meiner Forschungsarbeit beschäftigt sich mit Leptonen und den hypothetischen Rishonen, und ich glaube, wir können unser Augenmerk auf die Submikroskala richten, wenn wir entdecken wollen, wohin die Noozyten gingen, und warum.«
»Haben Sie eine Vermutung, warum?« fragte Paulsen-Fuchs.
Gogarty zog einen Stoß von Papieren über den Tisch, die mit handgeschriebenen Texten und Gleichungen bedeckt waren. »Information kann noch kompakter gespeichert werden als im molekularen Gedächtnis. Es kann in der Struktur der Raumzeit gespeichert werden. Was ist Materie schließlich anderes als eine stehende Welle von Information in Vakuum? Die Noozyten haben dies unzweifelhaft entdeckt und damit gearbeitet — Haben Sie von Los Angeles gehört?«
»Nein. Was ist damit?«
»Noch ehe die Noozyten verschwanden, verschwanden Los Angeles und die Küstenstädte weiter südlich bis Tijuana. Oder, besser gesagt, sie wurden etwas anderes. Ein großes Experiment, vielleicht. Eine Kostümprobe dafür, was jetzt geschieht.«
Paulsen-Fuchs nickte, ohne wirklich zu verstehen, und lehnte sich mit seiner Teetasse zurück. »Es war schwierig, hierher zu kommen«, sagte er. »Schwieriger noch, als ich erwartete.«
»Die Regeln haben sich geändert.«
»Darin scheint allgemeine Übereinstimmung zu bestehen. Aber warum, und in welcher Weise?«
»Sie sehen müde aus«, sagte Gogarty. »Ich schlage vor, daß wir uns einfach entspannen, der Wärme erfreuen und unseren Verstand über das wiederholte Lesen des Briefes hinaus nicht strapazieren.«
Paulsen-Fuchs nickte wieder, dann lehnte er den Kopf zurück und schloß die Augen. »Ja«, murmelte er. »Viel schwieriger als ich dachte.«
Zur Stunde des Sonnenaufgangs hatte der Schneefall aufgehört. Das Tageslicht verwandelte die Felder und Ufer in harmloses Weiß. Die düsteren Schneewolken waren abgezogen und ihnen folgten harmlos aussehende graue Wattebäusche, die mit dem Westwind einhertrieben. Paulsen-Fuchs erwachte zum Duft von Toast und frischem Kaffee. Er stützte sich auf die Ellbogen und rieb sich das zerzauste Haar. Die Couch, auf der er genächtigt hatte, war ein angenehmes Lager gewesen; er fühlte sich ausgeruht und erfrischt, wenn auch noch unsauber von der langen Reise.
»Wie wäre es mit heißem Wasser für eine Dusche?« fragte Gogarty.
»Wundervoll.«
»Im Duschbad ist es ein bißchen kalt, aber ziehen Sie diese Badeschuhe an, bleiben Sie auf den Holzlatten, und es sollte nicht allzu schlimm sein.«
Sehr viel munterer und wacher — im Duschraum war es unmenschlich kalt gewesen —, setzte sich Paulsen-Fuchs an den Frühstückstisch. »Ihre Gastfreundschaft ist bemerkenswert«, sagte er, als er Toast mit Butter und Marmelade kaute. »Ich fühle mich sehr schuldig an der Art und Weise, wie Sie in Deutschland behandelt wurden.«
Gogarty schürzte die Lippen und winkte ab. »Denken Sie sich nichts dabei! Alle standen unter Streß, was verständlich ist.«
»Was sagt der Brief heute morgen?«
»Lesen Sie selbst!«
Paulsen-Fuchs entfaltete das blendend weiße Blatt und fuhr mit dem Zeigefinger die sauber geschriebenen Buchstaben und Wörter entlang.
Lieber Heinz, lieber Sean. Sean hat die Antwort. Dehnung der Theorie, zu intensive Beobachtung. Schwarzes Loch der Gedanken. Wie er sagte. Theorie paßt, Universum ist geformt. Nicht anders herum. Zu viel Theorie, zu wenig Flexibilität. Mehr steht bevor. Große Veränderungen.
»Sonderbar«, sagte Paulsen-Fuchs. »Und es ist dasselbe Blatt?«
»Soweit ich es beurteilen kann, dasselbe.«
»Was will er diesmal sagen?«
»Ich denke, er bestätigt die Richtung meiner Arbeit, obwohl er sich nicht sehr klar ausdrückt. Vorausgesetzt, Sie lesen die Botschaft genauso wie ich. Sie werden das Gelesene abschreiben müssen, damit wir vergleichen können.«
Paulsen-Fuchs schrieb den Text auf ein Blatt Papier und reichte es Gogarty.
Der Physiker nickte. »Diesmal viel ausdrücklicher.« Er legte das Blatt weg und schenkte Kaffee nach. »Geradezu beschwörend. Er scheint zu bestätigen, was ich letztes Jahr sagte — daß das Universum tatsächlich keinen Unterbau hat, daß, wenn eine gute Hypothese daherkommt, eine, welche die vorausgegangenen Ereignisse erklärt, der Unterbau sich selbst entsprechend formt, und eine überzeugende Theorie geboren wird.«
»Dann gibt es letzten Endes keine Realität?«
»Anscheinend nicht. Schlechte Hypothesen, die nicht damit übereinstimmen, was auf unserer Ebene geschieht, werden vom Universum zurückgewiesen. Gute, überzeugende, werden einverleibt.«
»Das muß für den Theoretiker höchst verwirrend sein.«
Gogarty nickte. »Aber es gibt mir die Möglichkeit zu erklären, was mit unserer Erde geschieht.«
»So?«
»Das Universum bleibt nicht immer dasselbe. Eine brauchbare Theorie kann die Realität nur für eine gewisse Zeit bestimmen, und dann muß das Universum ein paar Veränderungen einführen.«
»Die Denkgebäude umstürzen, damit wir nicht selbstzufrieden werden?«
»So ist es. Aber Realität kann in ihrer Veränderung nicht beobachtet werden. Sie muß sich auf einer Ebene verändern, die durch Beobachtung nicht fixiert ist. Als unsere Noozyten also alles auf der kleinsten möglichen Ebene beobachteten, war das Universum unfähig, flexibel zu handeln, sich umzuformen. Es baute sich eine Art Spannung auf. Die Noozyten erkannten, daß sie sich in der Welt der Makrokosmos nicht länger halten konnten, also… nun, ich kann wirklich nicht mit irgendeiner Gewißheit sagen, was sie taten. Aber als sie gingen, wurde die Spannung plötzlich gelöst und verursachte einen Bruch. Die Dinge sind jetzt aus dem Lot. Die Veränderung war zu abrupt, sie führte zu Ungleichheiten in der Anpassung. Das Ergebnis ist ein Universum, das mit sich selbst nicht übereinstimmt, das widersprüchliche Phänomene zuläßt, jedenfalls in unserer Nachbarschaft. Wir bekommen leuchtenden Schnee, unzuverlässige Maschinen, ein sanftes Chaos. Und es mag sanft sein, weil…« Er schnitt eine Grimasse und zuckte die Achseln. »Mehr zerschlagenes Porzellan, fürchte ich.«
»Nur heraus damit!«
»Weil die Noozyten versuchen, so viele von uns zu retten, wie sie können. Für etwas Späteres.«
»Die ›großen Veränderungen‹.«
»Ja.«
Paulsen-Fuchs betrachtete Gogarty eine Weile nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin zu alt«, sagte er. »Wissen Sie, der Aufenthalt in England hat mich an den Krieg erinnert. So ungefähr muß es in England während der Luftoffensive gewesen sein — Sie nannten es den ›Blitz‹. Und so wurde es in Deutschland gegen Kriegsende.«
»Im Belagerungszustand«, sagte Gogarty.
»Ja. Aber wir Menschen sind chemisch sehr empfindlich ausbalanciert. Glauben Sie, die Noozyten versuchen die Sterblichkeitsrate zu drücken?«
Gogarty zuckte abermals die Achseln und griff zu dem Brief. »Ich habe dieses Ding tausendmal gelesen, und gehofft, es würde einen Hinweis auf diese Frage geben. Nichts. Keine Andeutung.« Er seufzte. »Ich kann nicht einmal eine Vermutung wagen.«
Paulsen-Fuchs steckte den letzten Bissen Toast in den Mund und kaute genießerisch. »Letzte Nacht hatte ich einen ziemlich lebhaften Traum«, sagte er. »In diesem Traum wurde ich gefragt, wieviele Händedrücke ich von jemand entfernt sei, der in Nordamerika lebte. Meinen Sie, das könnte bedeutsam sein?«