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Am fünfzehnten Juni fing es in der Gegend von Burgund an zu nieseln. Dann wurde Regen daraus. Es regnete Tag für Tag, Woche für Woche. Schließlich brachte Charles es nicht länger über sich, die Wetterberichte zu verfolgen.

Rene Duchamps rief ihn an. »Wenn es bis Mitte Juli aufhört, können wir die Lese noch retten.«

Der Juli entpuppte sich als der regenreichste Monat in den Annalen des französischen Wetterdienstes. Am ersten August hatte Charles Martel jeden Centime von dem mühsam gestohlenen Geld verloren. Und er hatte eine solche Angst, wie er sie noch nie zuvor gefühlt hatte.

»Nächsten Monat fliegen wir nach Argentinien«, verkündete Helene. »Ich hab’ mich dort für ein Autorennen gemeldet.«

Wie oft hatte er sie beobachtet, wenn sie im Ferrari über die verschiedensten Strecken gerast war. Und hatte sich des Gedankens nicht erwehren können: Wenn sie von der Bahn abkommt, gewinne ich meine Freiheit.

Aber er hatte es mit Helene Roffe-Martel zu tun. Das Leben hatte ihr nur eine Rolle zugewiesen: die der Siegerin. Ebenso wie er der geborene Verlierer war.

Der Sieg beim großen Rennen hatte Helenes üblichen Erregungszustand noch verstärkt. Sie waren in die City von Buenos Aires zurückgekehrt, und sobald sie ihre Hotel-Suite betreten hatten, musste Charles sich ausziehen und bäuchlings auf den Teppich vor den Kamin legen. Sie bestieg ihn, und als er sah, was sie in der Hand hielt, konnte er nur wimmern: »Nein, bitte nicht!«

Es wurde an die Tür geklopft.

»Merde!« schimpfte Helene. Sie verharrte ganz still, aber das Klopfen wiederholte sich.

»Senor Martel?« rief eine Stimme.

»Bleib so liegen«, kommandierte Helene. Sie stand auf, warf eine Seidenrobe über ihren schlanken, festen Körper, schritt zur Tür und öffnete sie ungehalten. Draußen stand ein Mann in grauer Botenuniform mit einem versiegelten Geschäftsumschlag in der Hand.

»Eine Sonderzustellung für Senor und Senora Martel.«

Sie nahm ihm den Umschlag ab und schloss die Tür.

Sie riss das Couvert auf und las die Nachricht.

Dann noch einmal, ganz langsam.

»Was ist los?« fragte Charles.

»Sam Roffe ist tot.« Sie lächelte.

5. Kapitel

London

Montag, 7. September, 14 Uhr

White’s Club lag im oberen Teil der St. James’s Street, nahe Piccadilly. Im achtzehnten Jahrhundert als Etablissement für Glücksspiele erbaut, war er einer der ältesten Clubs in England, auf jeden Fall der exklusivste. Die Mitglieder ließen ihre Söhne schon bei deren Geburt auf die Anmeldeliste setzen; denn die Wartezeit betrug im allgemeinen dreißig Jahre.

White’s Fassade verkörperte die Stein gewordene Diskretion. Die weiten Erkerfenster blickten auf die St. James’s Street. Sie waren zur Erbauung derer drinnen gedacht, weniger für die Neugierde der Passanten. Zum Haupteingang führten ein paar Stufen, aber außer Mitgliedern und Gästen war es nur wenigen Menschen gelungen, die schwere Tür zu passieren. Die Räume waren groß, dunkel und eindrucksvoll, poliert vom Firnis der Jahrhunderte. Die Einrichtung war alt und bequem -Ledermöbel, Zeitungsständer, kostbare Antiquitäten, tief gepolsterte Sessel, in denen schon einige Premierminister gesessen hatten. Es gab ein Backgammon-Spielzimmer mit einem offenen Kamin hinter einem bronzenen Gitter, und eine schwere holzgeschnitzte Treppe führte ins Obergeschoß, in den Speisesaal. Dieses Allerheiligste nahm die ganze Breite des Hauses ein und barg einen gewaltigen Mahagonitisch mit Sitzgelegenheiten für dreißig Personen sowie fünf kleinere Ecktische. Zum Lunch oder zum Dinner hielten sich dort einige der einflussreichsten Männer dieser Erde auf.

An einem der kleinen Ecktische saß Sir Alec Nichols, Mitglied des Unterhauses. Er nahm den Lunch mit einem Gast ein, Jon Swinton. Sir Alecs Vater und davor dessen Vater und Großvater waren Baronets gewesen, und ihrer aller Namen waren in den Mitgliedslisten von White’s zu finden. Sir Alec war ein dünner, blasser Mann Ende Vierzig, dessen sensibles aristokratisches Gesicht durch ein freimütiges Lächeln einzunehmen wusste. Soeben mit dem Auto von seinem Landsitz in Gloucestershire eingetroffen, trug er noch die alte Tweedjacke und weite, schlabbrige Flanellhosen, dazu ausgetretene Slipper. Sein Gast dagegen hatte einen Nadelstreifenanzug an, darunter ein Hemd mit schreiend grellen Karos und einen blutroten Schlips. In der gediegenen, vornehmen Atmosphäre erwies sich der Mann auf den ersten Blick als Fremdkörper.

»Hier ham Ses wirklich schön.« Jon Swinton sprach mit vollem Mund, mit    den    Resten    eines    großen Kalbskoteletts beschäftigt.

Sir Alec nickte. »Ja. Die Dinge haben sich geändert seit Voltaires Rede: >Die Briten haben hundert Religionen, aber nur eine Sauce.<«

Jon Swinton sah auf. »Voltaire? Wer is’n das?«

Sir Alec war verlegen. »Ach, so... so ein Bursche aus Frankreich.«

»Aha.« Jon Swinton spülte den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter, legte Messer und Gabel hin und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Also, dann, Sir Alec. Wir beide sollten jetzt mal ein bisschen übers Geschäft reden.«

Alec Nichols’ Antwort kam gedämpft. »Mr. Swinton, ich habe Ihnen doch schon vor zwei Wochen erklärt, ich bin dabei, die Angelegenheit zu regeln. Dazu brauche ich aber etwas mehr Zeit.«

Ein Kellner trat an den Tisch, balancierte einen Stapel Zigarrenkisten und setzte ihn geschickt auf dem Tisch ab.

»Keine schlechte Idee.« Jon Swinton prüfte die Banderolen, pfiff anerkennend durch die Zähne, verstaute mehrere Zigarren in seiner Brusttasche und zündete sich schließlich eine an. Weder der Kellner noch Sir Alec quittierten diesen faux pas auch nur mit einem Wimperzucken. Der Kellner nickte Sir Alec zu und trug die Kisten zum nächsten Tisch.

»Meine Bosse sind Ihnen gegenüber sehr entgegenkommend gewesen, Sir Alec. Aber ich fürchte, jetzt werden sie langsam ungeduldig.« Er beugte sich vor, hob das abgebrannte Streichholz auf und ließ es in Sir Alecs Weinglas fallen. »Und zwischen uns beiden Klosterbrüdern, meine Bosse sind nicht gerade nette Leute, wenn man sie ärgert. Sie wollen sie doch nicht im Genick haben, oder? Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ich hab’ einfach im Augenblick nicht das Geld.«

Jon Swinton lachte laut und vulgär. »Lass doch die Fisimatenten, Kumpel. Deine Mutter war ‘ne Roffe, stimmt’s? Und haste nicht ‘ne Farm von hundert Morgen, ‘n schniekes Haus in Knightsbridge, einen Rolls-Royce und noch ‘nen verdammten Bentley? Kann man doch wirklich nicht behaupten, dass du aufm bloßen Hintern rumrutschst.«

Voller Pein sah sich Sir Alec um. Gedämpft erläuterte er seinem Gegenüber: »Nichts davon ist flüssiges Kapital. Ich kann nicht einfach -«

Swinton kniff neckisch ein Auge zu und unterbrach ihn. »Will wetten, deine süße kleine Frau Vivian is’n Kapital, sogar ein sehr flüssiges. Was die für Titten vor sich herträgt!«

Sir Alec lief rot an. Vivians Name von den Lippen dieses vulgären Kerls bedeutete ein beispielloses Sakrileg. Er sah Vivian vor sich, so, wie er sie heute morgen zurückgelassen hatte, friedlich schlafend. Sie hatten getrennte Schlafzimmer, und zu Alecs größten Freuden gehörten seine »Besuche« in Vivians Boudoir. Manchmal, wenn Alec früh erwachte, ging er zu ihr hinüber und betrachtete seine schlafende Frau. Ob wach oder im Schlummer, sie war das schönste Mädchen, dem er je begegnet war. Sie pflegte nackt zu schlafen, und ihr weicher, kurvenreicher Körper bot sich halb bedeckt seinem Blick dar, wenn sie sich in ihr Laken gerollt hatte. Sie war blond, mit großen hellblauen Augen und einer Haut wie Sahne. Als Alec ihr zum ersten Mal begegnete, auf einem Wohltätigkeitsball, verdiente sie ihr Brot als drittklassige Schauspielerin. Er war hingerissen von ihrem Aussehen, aber vollends in Bann schlug ihn ihr natürliches, freundlich-lustiges Wesen. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und voller Lebenshunger. War Alec scheu und introvertiert, so bestand Vivian von Kopf bis Fuß aus sprühendem Temperament und Lebenslust. Alec hatte sie sich einfach nicht mehr aus dem Kopf schlagen können, doch er brauchte zwei volle Wochen, um sich Mut für einen Anruf bei ihr zu machen. Zu seiner eigenen Überraschung und unaussprechlichen Freude nahm Vivian seine Einladung an. Alec ging mit ihr zu einer Aufführung ins Old Vic; dann aßen sie im Mirabelle. Vivian wohnte in einer kleinen feuchten SouterrainWohnung in Notting Hill, und als Alec sie nach Hause brachte, fragte sie ihn: »Na, willst du noch mit rein?« Er war die Nacht über dageblieben, eine Nacht, die sein ganzes Leben verändern sollte. Zum ersten Mal ließ eine Frau ihn den sexuellen Höhepunkt erleben. Einem Wesen wie Vivian war er nie zuvor begegnet. Sie war ganz samtweiche Zunge, wallendes goldenes Haar und feuchtforderndes Pulsieren. Alec trat eine Forschungsreise an, die ihn verausgabt und völlig erschöpft zurückließ. Seitdem brachte ihn allein der Gedanke daran in Wallung.