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»Vergiss es«, hatte Sam geantwortet. »In dem Augenblick, wo wir Außenstehenden Anteile verkaufen, tauchen plötzlich lauter Fremde bei uns auf, die uns sagen wollen, wie wir unser Unternehmen zu führen hätten. Und ehe du dich’s versiehst, haben die das Direktorium übernommen und dann das ganze Unternehmen. Warum bist du eigentlich so scharf darauf, Alec, wo liegt für dich der Vorteil? Du hast ein hohes Einkommen, ein unbegrenztes Spesenkonto und dergleichen mehr. Du brauchst das Geld doch gar nicht.«

Einen Moment lang war Alec in Versuchung gewesen, Sam die Wahrheit zu sagen. Und wie er das Geld brauchte! Aber er wusste, das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Sam Roffe war ein Geschäftsmann, ein Mensch ohne Sentimentalitäten. Erfuhr er, dass Alec auf so schändliche Weise Roffe und Söhne kompromittiert hatte, würde er ihn feuern, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Nein, Sam Roffe war der allerletzte, den er um Hilfe bitten konnte.

Es gab keine Rettung mehr für ihn.

Der Empfangsportier von White’s näherte sich respektvoll Sir Alecs Tisch im Speisesaal; in seiner Begleitung befand sich ein Mann in grauer Botenuniform, der einen versiegelten Geschäftsbrief trug.

»Verzeihung, Sir Alec«, sagte der Portier, »aber dieser Mann hier besteht darauf, Ihnen das persönlich auszuhändigen.«

»Vielen Dank.« Sir Alec nahm den Umschlag in Empfang, und der Portier geleitete den Boten wieder hinaus.

Alec saß an seinem Tisch und starrte ins Leere. Erst nach langer Zeit öffnete er den Umschlag. Dreimal las er die Nachricht. Dann zerknüllte er das Papier in der Faust. Seine Augen standen voller Tränen.

New York

Montag, 7. September, 11 Uhr

Die Boeing 707-320 befand sich im Anflug auf Kennedy Airport. Sanft glitt das Flugzeug aus der ihm zugewiesenen Wartezone auf die Landebahn. Es war ein langer, anstrengender Flug gewesen, und Rhys Williams fühlte sich total erschöpft. Während der Nacht hatte er keinen Schlaf gefunden. Zu oft war er mit Sam Roffe in diesem Flugzeug unterwegs gewesen. Sams Gegenwart war übermächtig.

Elizabeth Roffe erwartete ihn. Aus Istanbul hatte Rhys ihr telegrafiert und dabei lediglich seine Ankunft für den folgenden Tag angekündigt. Er hätte ihr die Nachricht vom Tode ihres Vaters auch telefonisch übermitteln können, aber er wollte es ihr persönlich sagen.

Das Flugzeug war jetzt gelandet und rollte zum Empfangsgebäude. Da Rhys nur mit Handgepäck reiste, wurde er ohne Umstände durch den Zoll geschleust. Der Himmel war grau verhangen. Vorbote des Winters. Am Nebeneingang wartete eine Limousine auf ihn, die ihn zu Sam Roffes Anwesen auf Long Island bringen sollte, wo Elizabeth ihn erwartete.

Unterwegs versuchte Rhys sich die Worte zurechtzulegen, die er ihr sagen wollte, aber in dem Augenblick, da Elizabeth ihm gegenüberstand, war sein Kopf vollständig leer. Jedesmal, wenn er sie sah, überraschte ihn ihre Schönheit aufs neue. Sie hatte den Charme ihrer Mutter geerbt, besaß die gleichen aristokratischen Züge, die mitternachtsschwarzen Augen, eingerahmt von langen, schweren Wimpern. Ihre Haut war weich und makellos, das Haar leuchtend schwarz, die Figur üppig und doch schlank. Die cremefarbene Seidenbluse trug sie am Hals geöffnet, dazu einen grauen plissierten Flanellrock und passende Schuhe. Nichts wies mehr auf den tapsigen Teenager hin, dem Rhys neun Jahre zuvor begegnet war. Sie war zur Frau herangereift, ein kluges, geistreiches Geschöpf voller Herzenswärme und völlig unbefangen. Jetzt lächelte sie Rhys an, die Wiedersehensfreude stand ihr auf dem Gesicht geschrieben. »Kommen Sie herein, Rhys.« Sie nahm seine Hand und führte ihn in die große eichengetäfelte Bibliothek. »Ist Sam mit Ihnen im Flugzeug gekommen?«

Rhys sah keine Möglichkeit, es ihr schonend beizubringen. Er holte tief Luft. »Liz, Sam hatte einen schlimmen, sehr schlimmen Unfall.« Er sah, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sie sagte nichts. »Er ist dabei ums Leben gekommen.«

Wie versteinert stand sie da. Als sie endlich sprach, konnte Rhys ihre Worte kaum hören. »Was - was ist geschehen?«

»Einzelheiten sind uns noch nicht bekannt. Er war dabei, den Montblanc zu besteigen. Das Seil riss. Er fiel in eine Gletscherspalte.«

»Hat man - hat man ihn gefunden?«

»Der Spalt war ein bodenloser Abgrund.«

Sie schloss einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder. Angst durchfuhr Rhys. »Sind Sie okay?«

»Ich? Okay? Aber klar. Mir geht es blendend, vielen Dank. Hätten Sie gern eine Tasse Tee oder etwas zu essen?«

Konsterniert starrte er sie an. Gerade wollte er etwas sagen, als ihm die Erkenntnis kam: Sie stand unter Schock. Wahllos plapperte sie weiter, ohne Sinn und Verstand, die Augen unnatürlich glänzend, das Lächeln zur Grimasse gefroren.

»Sam war immer so sportlich, ein richtiger Athlet«, sagte sie. »Sie kennen ja seine Trophäen. Immer war er Sieger, nicht wahr? Wussten Sie, dass er schon mehrmals den Montblanc bestiegen hatte?«

»Liz -«

»Natürlich wussten Sie das. Einmal waren Sie ja sogar dabei, oder irre ich mich, Rhys?«

Rhys ließ sie jetzt reden, wusste, dass ihre Sätze eine Narkose gegen den Schmerz waren, eine Mauer aus Worten, die sie vor dem Augenblick schützen sollte, da sie dem Verlust ins Auge blicken musste. Als er ihr zuhörte, wurde er für einen Augenblick an das überempfindliche, verletzbare kleine Mädchen von damals erinnert, viel zu sensibel und schüchtern, um gegen die brutale Wirklichkeit gewappnet zu sein. Jetzt war sie wie eine zu weit aufgezogene Uhr, zum Zerreißen angespannt und plötzlich so zerbrechlich, dass Rhys es mit der Angst zu tun bekam.

»Lassen Sie mich einen Arzt rufen«, bat er. »Der kann Ihnen etwas geben, damit -«

»Nein, nein. Es geht mir wirklich gut. Ich glaube, wenn Sie nichts dagegen hätten, würde ich mich gern etwas hinlegen. Ich bin müde.«

»Soll ich dableiben?« »Vielen Dank. Das ist nicht nötig.«

Sie begleitete ihn zur Tür. Als er in den Wagen stieg, rief sie: »Rhys!«

Er drehte sich um. »Danke für Ihr Kommen.« Du lieber Himmel, dachte er.

Viele Stunden, nachdem Rhys Williams gegangen war, lag Elizabeth noch immer im Bett, starrte die Decke an, auf das wechselnde Muster, das eine blässliche Septembersonne ins Zimmer warf.

Und jetzt stellte sich der Schmerz ein. Sie hatte auf ein Beruhigungsmittel verzichtet, wollte den Schmerz ertragen, soviel, fühlte sie, war sie Sam schuldig. Und weil sie seine Tochter war, würde sie die Pein aushalten können. So lag sie da, den Tag über, dann die Nacht, dachte an gar nichts, dachte an alles. Die Erinnerung übermannte sie, mehr noch, sie fühlte sich von der Vergangenheit überwältigt. Sie lachte, und sie weinte, diagnostizierte einen Zustand hochgradiger Hysterie, aber das machte nichts aus. Es war niemand da, der sie hätte hören können. Mitten in der Nacht überfiel sie ein Heißhunger. Sie ging nach unten in die Küche, verschlang ein riesiges Sandwich und erbrach es gleich darauf. Danach fühlte sie sich in keiner Weise besser. Nichts konnte den Schmerz lindern, der sie erfüllte. Es war, als stünden alle ihre Nervenenden in Flammen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zurück, in die Jahre mit ihrem Vater. Durch das Schlafzimmerfenster sah sie die Sonne aufgehen. Kurz darauf klopfte ein Hausmädchen an die Tür. Elizabeth schickte es fort. Einmal klingelte das Telefon. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie griff nach dem Hörer. Das ist Sam! dachte sie. Dann fiel ihr alles wieder ein, und sie zog die Hand zurück.