Nie wieder würde er sie anrufen. Nie wieder würde sie seine Stimme hören, ihn nie wieder sehen.
Ein bodenloser Abgrund zwischen Gletschern.
Bodenlos.
Elizabeth lag still da, ließ sich von der Vergangenheit überspülen. Nur die Erinnerung zählte. Die Erinnerung an alles.
Der Tag, an dem Elizabeth Rowane Roffe geboren wurde, markierte eine doppelte Tragödie. Das kleinere Übel war, dass Elizabeths Mutter bei der Entbindung starb; das größere die Tatsache, dass ein Mädchen zur Welt gekommen war.
Neun Monate lang, bis sie aus der Dunkelheit des Mutterschoßes ans Licht gelangte, war sie das auf der Welt am sehnlichsten erwartete Kind: Erbe eines kolossalen Imperiums, des Multi-Milliarden-Dollar-Riesen Roffe und Söhne.
Sam Roffes Frau Patricia war eine dunkelhaarige Frau von ungewöhnlicher Schönheit. Viele Frauen hatten versucht, Sam einzufangen, begierig auf seine Stellung, sein Prestige und sein Vermögen. Patricia hatte ihn geheiratet, weil sie in ihn verliebt war. Wie es sich herausstellte, war das der schlechteste aller Gründe. Sam Roffe war auf ein rein geschäftliches Arrangement ausgewesen, und Patricia erschien ihm für seine Zwecke ideal. Sam besaß weder die Zeit, noch hegte er den Wunsch nach einem harmonischen Familienleben. In seinem Dasein gab es für nichts Platz außer fürs Geschäft. Geradezu fanatisch diente er dem Konzern, und nicht weniger erwartete er von den Menschen seiner Umgebung. Für ihn lag Patricias Bedeutung allein in dem Beitrag, den sie dem Unternehmen zu leisten vermochte. Als ihr aufging, auf welche Art von Ehe sie sich eingelassen hatte, war es zu spät. Sam übertrug ihr eine Rolle, und sie spielte sie tadellos. Das hieß: Sie war eine perfekte Gastgeberin, die perfekte Ehefrau. Von ihrem Mann empfing Patricia keine Liebe, und mit der Zeit lernte sie, auch selbst keine zu geben. Statt dessen diente sie Sam und war ebenso eine Angestellte von Roffe und Söhne wie die kleinste Sekretärin. Allerdings hatte sie vierundzwanzig Stunden am Tag Bereitschaftsdienst, war jederzeit auf dem Sprung, an jeden Ort der Welt zu fliegen, wo immer Sam ihrer bedurfte, um überall, im großen wie im kleinen Kreis, die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Erde zu bewirten oder in allerkürzester Zeit ein glänzendes Diner für mehrere Gäste auf die Beine zu stellen. Patricia war ein Aktivposten des Betriebskapitals der Firma, wenngleich sie in keiner Bilanz auftauchte. Viel Mühe investierte sie darin, ihre Schönheit zu konservieren. Sie trieb unermüdlich Gymnastik, lebte Diät. Ihre Kleider wurden eigens für sie entworfen von Norell in New York, Chanel in Paris, Hartnell in London und der jungen Sybil Connolly in Dublin. Ihre erlesenen Juwelen stammten von Jean Schlumberger und Bulgari. Ihr Leben war ständig mit Verrichtungen ausgefüllt, aber dennoch freudlos und leer. Das alles änderte sich mit ihrer Schwangerschaft.
Sam Roffe war der letzte männliche Erbe der Dynastie, und Patricia wusste genau, wie sehr er sich nach einem Sohn sehnte. Er setzte sein ganzes Vertrauen in sie. Patricia war von nun an die Königinmutter, ganz und gar mit dem Baby in ihrem Leib beschäftigt, dem jungen Prinzen, der eines Tages das Reich erben würde. Als man sie in den Kreißsaal fuhr, umklammerte Sam ihre Hand und sagte nur: »Danke.«
Eine halbe Stunde später war sie an einer Embolie gestorben. Der Tod ereilte sie, bevor sie erfahren musste, dass sie die Erwartungen ihres Mannes enttäuscht hatte.
Für ein paar Stunden machte Sam Roffe sich von seinem unbarmherzigen Terminkalender frei, um seine Frau zu Grabe zu tragen. Dann wandte er sich dem Problem zu, was mit seiner Tochter geschehen sollte.
Eine Woche nach ihrer Geburt wurde Elizabeth nach Hause gebracht und einem Kindermädchen übergeben, der ersten in einer langen Reihe wechselnder Gouvernanten. In ihren ersten fünf Lebensjahren sah Elizabeth nur sehr wenig von ihrem Vater. Für sie war Sam Roffe kaum mehr als ein undeutlicher Fleck in der Landschaft, ein Fremder, der stets von irgendwo kam oder irgendwohin fuhr. Er war ständig unterwegs, und Elizabeth bedeutete dabei nichts als ein Ärgernis, das man halt mitschleppte wie ein im Grunde überflüssiges Gepäckstück. Einen Monat lebte sie in ihrem Haus auf Long Island, mit Bowlingbahn, Tennisplatz, Schwimmbad und Squashanlage. Ein paar Wochen später würde ihre Nanny plötzlich Elizabeths Siebensachen packen und das Kind in die Biarritzer Villa verfrachten. Dort warteten vierzig Zimmer und ein Grundstück von ungefähr dreißig Morgen auf sie. Elizabeth verlief sich ständig.
Außerdem besaß Sam Roffe ein geräumiges zweistöckiges Penthouse am New Yorker Beekman Place sowie eine weitere Villa an der Costa Smeralda auf Sardinien. Elizabeth reiste überallhin, wurde von Anwesen zu Anwesen gehetzt und wuchs inmitten einer verschwenderischen Pracht auf. Doch stets fühlte sie sich wie eine Außenseiterin, die aus Versehen in eine Geburtstagsparty schneite, ein Fest, veranstaltet von lieblosen Fremden.
Als sie älter wurde, lernte sie, was es hieß, die Tochter von Sam Roffe zu sein. Elizabeth ging es ähnlich wie ihrer Mutter, deren Seelenleben dem Konzern geopfert worden war. Wenn es für sie kein Familienleben gab, lag das daran, dass gar keine Familie existierte, nur bezahlte Ersatzkräfte und in undeutlicher Ferne der Mann, der sie gezeugt hatte und der an ihr keinerlei Interesse zu haben schien. Patricia hatte gelernt, sich der Situation anzupassen, aber für das Kind war es die reinste Hölle. Elizabeth fühlte sich unerwünscht und ungeliebt, und ihr war es nicht gegeben, mit der Hoffnungslosigkeit und inneren Leere fertig zu werden. Schließlich gab sie sich selbst die Schuld, dass niemand sie liebte. Verzweifelt versuchte sie, die Zuneigung ihres Vaters zu gewinnen. Als sie alt genug war, die Schule zu besuchen, fertigte sie im Unterricht Kleinigkeiten für ihn an, malte mit Wasserfarben kindliche Bilder. Ihre Geschenke hütete sie wie eine Glucke ihre Küken, um ihren Vater damit zu überraschen, wenn er von einer seiner Reisen zurückkam. Sie wollte ihn so gerne erfreuen, sehnte sich danach, ihn sagen zu hören: »Das ist aber schön, Elizabeth! Du zeigst wirklich Talent.«
Kam er dann und präsentierte Elizabeth ihm ihr Liebesopfer, blickte er nur abwesend hoch, nickte oder schüttelte den Kopf und meinte: »Na ja, eine Künstlerin wird aus dir wohl nicht gerade.«
Zuweilen wachte Elizabeth mitten in der Nacht auf und stieg die lange Wendeltreppe im Penthouse am Beekman Place hinab, lief durch die große höhlenartige Halle, die zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte. Ehrfürchtig betrat sie den leeren Raum, als wäre er ein Tempel. Das war sein Zimmer, wo er arbeitete, wichtige Dokumente unterschrieb, kurz: die Welt regierte. Dann schlich sie an den riesenhaften Schreibtisch mit der lederbeschlagenen Platte und fuhr sanft mit den Händen darüber hinweg. Schließlich trat sie hinter den Schreibtisch und nahm in dem großen Ledersessel Platz. Dort endlich fühlte sie sich ihrem Vater näher. Es war, als würde sie zu einem Stück von ihm. In ihrer Einbildung führten sie lange Gespräche, und er hörte aufmerksam zu, nahm Anteil an ihren Sorgen und Problemen, die sie vor ihm ausbreitete. Eines Nachts, als Elizabeth wieder einmal im Dunkeln an seinem Schreibtisch saß, flammten plötzlich die Lichter auf. In der Tür stand ihr Vater. Er blickte Elizabeth an, die, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, an seinem Schreibtisch saß.
»Was, um Himmels willen, machst du hier allein im Dunkeln?« Er nahm sie in die Arme und trug sie nach oben, brachte sie zu Bett, und Elizabeth lag die ganze Nacht wach und dachte daran, wie ihr Vater sie im Arm gehalten hatte.
Nach diesem Erlebnis ging sie jede Nacht in sein Arbeitszimmer und wartete, dass er kam und sie holte, aber es geschah nie wieder.
Über ihre Mutter wurde niemals gesprochen, aber in der Eingangshalle hing ein wunderschönes Porträt von Patricia, das sie in ihrer ganzen Größe zeigte. Stundenlang konnte Elizabeth es betrachten. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und verglich: hässlich. Ihre Zähne trugen Klammern, und der Mund sah aus wie ein Wasserspeier. Kein Wunder, dass ich meinem Vater gleichgültig bin, dachte sie.