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Über Nacht entwickelte Elizabeth einen geradezu unstillbaren Appetit und setzte Fett an. Der Grund dafür war ganz einfach, das Ei des Kolumbus sozusagen: Solange sie dick und hässlich war, würde niemand von ihr erwarten, dass sie ihrer Mutter ähnelte.

Als Elizabeth zwölf war, schickte man sie in eine exklusive Privatschule in der East Side von Manhattan, oberhalb der Siebzigsten Straße. Jeden Morgen wurde sie vom Chauffeur im Rolls-Royce hingebracht, ging in ihre Klasse und saß dort still, ganz in sich gekehrt. Von nichts und niemandem um sie herum nahm sie Notiz. Sie meldete sich nie zu Wort, und wenn sie aufgerufen wurde, schien sie um eine Antwort verlegen. Bald gewöhnten sich ihre Lehrer an, sie einfach zu ignorieren. Wenn sie untereinander über Elizabeth sprachen, waren sie sich einig: Hier hatte man es mit einem der verzogensten Kinder zu tun, die ihnen jemals begegnet waren. In einem vertraulichen Jahresschlussbericht an die Schulleiterin konstatierte Elizabeths Klassenlehrerin:

»Elizabeth Roffe hat keinerlei Fortschritte gemacht. Sie hält sich von ihren Klassenkameradinnen fern und verweigert jede Gruppenaktivität. In der Schule hat sie keine einzige Freundin. Ihre Leistungen sind keineswegs zufriedenstellend, aber es ist schwer zu sagen, warum. Entweder gibt sie sich keine Mühe, oder sie ist geistig unfähig, den Stoff zu bewältigen. Außerdem benimmt sie sich arrogant und selbstsüchtig.

Handelte es sich bei ihrem Vater nicht um einen der wichtigsten Mäzene dieser Schule, würde ich energisch für ihren Ausschluss plädieren.«

Der Bericht verfehlte den eigentlichen Tatbestand um Lichtjahre. Die Wahrheit war ganz einfach: Elizabeth Roffe besaß keinen Schutzschild, keinen Panzer gegen die schreckliche, abgrundtiefe Einsamkeit, die ihr Leben umfing. Sie hatte ein derart stark ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl, dass sie einfach davor zurückschreckte, sich mit jemandem anzufreunden, aus lauter Angst, die anderen könnten entdecken, dass sie gänzlich unnütz und der Liebe nicht wert sei. Sie war nicht arrogant, sondern auf fast pathologische Weise schüchtern. Ihr Gefühl sagte ihr, sie gehörte nicht in die Welt, in der sich ihr Vater bewegte. Im Grunde gehörte sie nirgendwohin. Sie verabscheute die tägliche Schulfahrt im Rolls-Royce in dem Bewusstsein, diesen Aufwand durch nichts verdient zu haben. Im Unterricht wusste sie sehr wohl alle Antworten auf die Fragen ihrer Lehrerinnen, aber sie wagte einfach nicht, das auch zu zeigen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie war aufs Lesen versessen, lag bis tief in die Nacht wach und verschlang ein Buch nach dem anderen.

Großen Raum in ihrem Leben nahmen ihre Tagträume ein: herrliche Phantasiegebilde. Sie befand sich mit ihrem Vater in Paris, sie fuhren in der Pferdekutsche durch den Bois, und dann nahm er sie mit in sein Büro, einen riesigen Raum, so groß wie die St.-Patricks-Kathedrale an der Fifth Avenue. Immer wieder kamen Leute herein und brachten Dokumente zum Unterzeichnen, aber ihr Vater scheuchte sie alle ungeduldig fort und sagte: »Sehen Sie denn nicht, dass ich keine Zeit habe? Ich bin mit meiner Tochter Elizabeth beschäftigt.«

Der Vater und sie waren beim Skilaufen in der Schweiz, rasten Seite an Seite die Pisten hinab. Der eisige Wind peitschte ihnen ins Gesicht, und plötzlich stürzte ihr Vater, schrie vor Schmerz laut auf: Sein Bein war gebrochen. Und sie sagte: »Keine Angst, Papa! Ich sorge für dich.« Sie glitt auf ihren Skiern ins Tal, lief zum Krankenhaus. »Beeilen Sie sich, mein Vater hat sich verletzt.« Und ein Dutzend Männer in weißen Kitteln brachten ihn in einem Krankenwagen fort, und sie saß Tag und Nacht an seinem Bett und fütterte ihn (also hatte er sich wohl den Arm gebrochen, nicht das Bein), und ihre Mutter, seltsamerweise noch am Leben, kam ins Zimmer, und ihr Vater war ganz ungehalten: »Ich hab’ jetzt keine Zeit für dich, Patricia. Elizabeth und ich haben etwas zu bereden.«

Oder sie beide befanden sich in ihrer Villa auf Sardinien. Alle Hausangestellten hatten Ausgang, und Elizabeth bereitete ihm das Abendessen. Er nahm von jedem Gang zweimal und sagte: »Weißt du, Elizabeth, du bist eine viel bessere Köchin, als deine Mutter es je war.«

Diese Szenen mit ihrem Vater endeten immer gleich. Es klingelte an der Tür, und ein großer Mann, der ihren Vater beträchtlich überragte, kam herein und hielt um ihre Hand an. Ihr Vater aber flehte sie an: »Bitte, Elizabeth, verlass mich nicht, ich brauche dich doch!«

Und Elizabeth wies den Freier ab und blieb bei ihrem Vater.

Von allen Häusern und Wohnungen, in denen Elizabeth aufwuchs, war ihr die Villa auf Sardinien die liebste. Sie war keineswegs die größte, aber die farbenprächtigste von allen. Überhaupt fand Elizabeth Sardinien wundervoll, die Insel mit der dramatischen Felsenkulisse, dem herrlichen Panorama von Meer, Bergen und grünen Wiesen. Die riesigen Vulkanklippen waren vor Tausenden von Jahren aus dem Ur-Meer durch Eruption entstanden; die Küste schwang sich in einem gewaltigen Bogen, so weit das Auge reichte, und das Tyrrhenische Meer bildete den blauen Rahmen für das herrliche Stück Land.

Die Insel hatte für Elizabeth ihre eigenen, besonderen Düfte, den Geruch von Seebrise, den Wäldern, den herrlich leuchtenden Blumen und den übermannshohen Büschen, die zwischen den riesenhaften Korkeichen wuchsen, deren Borke auf das Festland verschifft wurde.

Stundenlang konnte Elizabeth den »singenden« Felsen lauschen, jenen geheimnisvollen Riesenbrocken mit dem Loch mittendrin. Wenn der Wind hindurchblies, drang ein gespenstisch schriller Laut heraus wie die Totenklagen verlorener Seelen.

Und die Winde wehten. Elizabeth kannte sie alle, konnte sie mit der Zeit genau unterscheiden: mistrale, ponente, tramontana, grecale und levante, sanfte Winde und wilde Stürme. Und dann der gefürchtete Schirokko, der warm von der Sahara herüberwehte. Die Roffesche Villa lag an der Costa Smeralda, oberhalb von Porto Cervo, auf einem Felsen hoch über dem Meer, abgeschieden durch Wacholderbüsche und wildwachsende sardische Olivenbäume. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Hafen weit, weit unten und die grünen Hügel rundum, bedeckt mit bunt durcheinandergewürfelten Häusern aus Stuck und Stein, farbig wie die Pastellzeichnung eines Kindes.

Die Villa war aus Stuck, innen mit gewaltigen Balken aus Wacholderstämmen. Sie war auf mehreren Ebenen erbaut, mit großen komfortablen Räumen, jeder mit Kamin und Balkon. Wohnhalle und Speisesaal waren mit Panoramafenstern ausgestattet, der Blick auf die Insel bot sich wie ein Breitwandgemälde dar. Eine freitragende Treppe führte zu den vier Schlafzimmern im Obergeschoß. Die Inneneinrichtung passte sich hervorragend der Landschaft an. Da standen große ländliche Refektoriumstische mit Holzbänken, aber auch weiche Sessel. An den Fenstern waren Vorhänge aus grober weißer Wolle angebracht, handgewebtes Erzeugnis der Insel, und die Fußböden waren mit farbenprächtigen Kacheln aus Sardinien oder der Toskana ausgelegt. In den Bädern und Schlafzimmern lagen einheimische Wollteppiche, gefärbt nach den ländlichen Methoden der Inselbevölkerung. Das ganze Haus war mit Gemälden französischer Impressionisten, alter italienischer Meister und sardischer Primitiver ausgestattet. In der Diele hingen Porträts von Samuel Roffe und Terenia Roffe, Elizabeths Ururgroßeltern.

Was sie jedoch am Haus am meisten liebte, war das Turmzimmer unter dem steil abfallenden Ziegeldach. Man erreichte es über eine enge Treppe vom zweiten Stock aus. Sam Roffe benutzte es als Arbeitszimmer. Das Turmzimmer war mit einem großen Schreibtisch und einem bequem gepolsterten Drehsessel möbliert. Die Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen, dazwischen hingen große Landkarten mit Hinweisen auf das Roffe-Imperium. Glastüren führten auf einen kleinen Balkon direkt über einer schroff zum Meer abfallenden Felswand. Der Blick von dort aus war einzigartig.