Die Worte waren für Rhys von einer unwiderstehlichen Zauberkraft, verhießen das Schlaraffenland, das den ungeheuren Hunger stillen konnte, der den jungen Mann verzehrte. Denn er wusste etwas, das sich der Kenntnis Sam Roffes entzog: Einen Rhys Williams gab es in Wahrheit nicht. Rhys Williams war ein Mythos, entstanden aus tiefer Armut, heißer Sehnsucht und einem unbändigen Ehrgeiz.
Geboren war er im Bannkreis der Kohlenminen von Gwent und Carmarthen, in einem der rot-vernarbten Täler von Wales, wo die grüne Erde versetzt ist mit Felsen aus Sandstein und kreisrunden Inseln aus Kalk und dem tiefen Schwarz der Kohle. Er wuchs auf in einem Fabelland, wo schon die Namen reine Poesie sind: Brecon und Peny Fan und Penderyn oder Glyncorrwg und Maesteg. Das Land der Sagen und Legenden. Die Kohle tief in der Erde, entstanden vor 280 Millionen Jahren, der Boden darüber, einstmals mit Waldungen so dicht bewachsen, dass ein Eichhörnchen von Brecon Beacons bis zum Meer hüpfen konnte, ohne nur einmal den Boden zu berühren. Aber dann war die industrielle Revolution hereingebrochen, Köhler hatten die herrlich grünen Bäume abgeholzt, zum Fraß für die unersättlichen Feuer in den Ofen der Eisenproduktion.
Der Junge wuchs auf mit den Heldengestalten einer anderen Zeit und einer vergangenen Welt. Robert Farrer, von der römisch-katholischen Kirche auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er sich weigerte, das Zölibat zu geloben und von seinem Weib zu lassen; König Hywel der Großmütige, der dem wilden Wales im zehnten Jahrhundert das Gesetz gegeben hatte; Brychen, furchterregender Krieger, der zwölf Söhne und vierundzwanzig Töchter gezeugt und alle Angriffe auf sein Königreich mit barbarischer Härte zurückgeschlagen hatte. Es war ein Land, getränkt von Geschichte und Geschichten, in dem der Knabe heranreifte, doch der Glanz von vorgestern war etwas ganz anderes als das Gestern und Heute. Rhys’ Vorfahren waren alle Bergleute gewesen, und der Junge lauschte wieder und immer wieder den Geschichten des Vaters und seiner Onkeclass="underline" Geschichten aus der Hölle. Er hörte von den harten Zeiten, da es keine Arbeit gab, als die reichen Kohlengruben von Gwent und Carmarthen nach einem gnadenlosen Kampf zwischen den Gesellschaften und den Kumpeln geschlossen wurden und als den Bergarbeitern der Lebenswille gebrochen wurde durch unbeschreibliche Armut, die Ehrgeiz und Stolz zum Erlöschen brachte, ihnen den Willen raubte und sie schließlich zur Unterwerfung zwang.
Und als sich die Tore der Minen wieder öffneten, da nahm die Hölle nur ein anderes Gesicht an. Die meisten aus Rhys’ Familie waren unter Tage umgekommen, tief in den Eingeweiden der Erde, oder hatten sich ihre rußgeschwärzten Lungen aus den Leibern gehustet. Wenige nur hatten ihr drittes Lebensjahrzehnt erreicht.
Rhys hörte seinem Vater zu und seinen vorzeitig gealterten jungen Onkeln. Er hörte von Gesteinseinbrüchen tief unten in der Erde, von den Männern, die zu Krüppeln wurden, und von den Streiks. Er hörte von guten und von schlechten Zeiten, und für den Jungen waren es Geschichten des Grauens. Der Gedanke, sein Leben im Dunkel der Tiefe verbringen zu müssen, entsetzte ihn. Rhys wusste: Diesem Schicksal musste er entrinnen.
Und als er zwölf war, lief er von zu Hause fort. Er kehrte den Kohlentälern den Rücken und zog ans Meer, nach Sully Ranny Bay und Lavernock, zu den Herden der reichen Touristen. Er holte heran, schleppte fort, trug schwere Lasten, machte sich nützlich, wo er nur konnte. Er half Damen die steilen Klippen hinab zum Strand, ächzte unter Picknickkörben, kutschierte in Penarth einen Ponywagen, tat Handlangerdienste auf dem Rummelplatz von Whitmore Bay.
Bei alledem war er nur ein paar Stunden von zu Hause entfernt, doch die eigentliche Entfernung war gar nicht zu messen. Hier gab es die Leute aus einer anderen Welt. Rhys Williams hatte selbst in seinen kühnsten Träumen keine derart prächtig gekleideten Menschen gesehen, solchen Glanz und so herrliche Gewänder. Jede Frau war in seinen Augen eine Königin, die Männer alle elegante und imposante Persönlichkeiten. Er wusste: In diese Welt gehörte er, und er würde alles tun, um sie zu der seinen zu machen.
Mit vierzehn hatte Rhys Williams genug zusammengespart, um eine Fahrkarte nach London zu kaufen. In den ersten drei Tagen wanderte er ziellos durch die gigantische Stadt. Er sog alles gierig in sich auf, die unglaublichen Bilder des Lebens.
Er fand eine Anstellung als Botenjunge bei einem Tuchhändler. Dort arbeiteten zwei männliche Angestellte, für ihn höhere Wesen, und eine Verkäuferin, bei deren Anblick dem Jungen aus Wales jedes Mal das Herz zu singen begann. Die Männer behandelten Rhys wie ein Stück Dreck, was ihn nicht wunderte. Er war ja auch eine komische Figur. Seine Kleidung war primitiv, seine Manieren ungehobelt, und er redete in einem unverständlichen Dialekt. Sie konnten nicht einmal seinen Namen aussprechen, nannten ihn Reiss oder Rei oder Reise. »Man spricht das aus wie Ries«, versuchte Rhys ihnen immer wieder klarzumachen.
Das Mädchen fasste, aus schierem Mitleid, ein Herz für ihn. Sie hieß Gladys Simpkins und teilte in Tooting eine kleine Wohnung mit drei Freundinnen. Eines Tages gestattete sie dem Jungen, sie nach der Arbeit nach Hause zu begleiten, und lud ihn dort auf eine Tasse Tee ein. Der junge Rhys war vor scheuer Erregung ganz außer sich, hatte er sich von dem Stelldichein doch seine erste sexuelle Erfahrung versprochen. Doch als er linkisch seinen Arm um Gladys legte, starrte sie ihn einen Moment lang fassungslos an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Von so was kannste bei mir nix kriegen, was haste dir bloß eingebildet«, erklärte sie. »Aber ‘nen Rat kannste haben. Wenn du willst, dass aus dir was wird, dann zieh dir erst mal ‘n paar anständige Klamotten an und sieh zu, dass du ‘n Stück Erziehung abbekommst, und bring dir vor allem Manieren bei.« Dann betrachtete sie das dünne, leidenschaftliche Gesicht und sah Rhys in die tiefblauen Augen.
Schließlich meinte sie sehr viel sanfter: »Weißt du was? Du kriegst die Kurve schon, wenn du erst mal groß bist.«
Wenn du willst, dass aus dir was wird... Das war der Augenblick, in dem die Phantasiegestalt geboren wurde, ein Fabelwesen namens Rhys Williams. Der wahre Rhys Williams, das war ein ungebildeter, ungehobelter Junge, ohne Hintergrund und Herkunft, ohne Vergangenheit und Zukunft. Aber er besaß Einbildungskraft, scharfe Intelligenz und brannte vor Ehrgeiz. Und das genügte. Zunächst einmal schuf er sich ein Bild von dem, was er sein und wen er darstellen wollte. Sah er in den Spiegel, so blickte ihm dort nicht der linkische, schmutzige Knabe mit dem komischen Dialekt entgegen. Sein Spiegelbild, das war eine geschliffene Persönlichkeit, erfahren und erfolgreich im Leben. Und Rhys begann, sich Schritt für Schritt diesem imaginären Bild, das er von sich selbst in seiner Seele trug, anzugleichen. Er besuchte die Abendschule, verbrachte ganze Wochenenden in Museen und Galerien. Er suchte die öffentlichen Bibliotheken auf, ging ins Theater, wo er von der obersten Galerie aus die Kleider der feinen Leute im Parkett studierte. Er geizte am täglichen Essen, um einmal im Monat ein vornehmes Restaurant zu besuchen, wo er mit Sorgfalt die Tischmanieren der anderen Gäste nachahmte. Er beobachtete, lernte und bewahrte alles in seinem Gedächtnis auf. Wie ein Schwamm war er, wischte die Vergangenheit aus und sog die Zukunft in sich auf.
Innerhalb eines kurzen Jahres hatte Rhys sich genügend Wissen und Weltkenntnis angeeignet, um zu merken, dass Gladys Simpkins, seine Prinzessin von einst, nur ein billiges Cockney-Mädchen war, weit unter seinem Geschmack und Standard. Er kündigte dem Tuchhändler und fand neue Arbeit als Angestellter in einer Drogerie, die zu einer großen Drogisten-Kette gehörte. Noch nicht ganz sechzehn, sah er beträchtlich älter aus, hatte Fleisch angesetzt und war in die Höhe geschossen. Nachgerade fingen die Frauen an, auf die dunkle Attraktivität des Jungen aus Wales aufmerksam zu werden, auf sein Aussehen und seine gewandte, schmeichelnde Zunge. An seinem neuen Arbeitsplatz hatte er sofort durchschlagenden Erfolg. Kundinnen pflegten so lange zu warten, bis sie von Rhys bedient werden konnten. Er kleidete sich gepflegt, sprach akzentfrei und geschliffen. Ihm war wohl bewusst, dass er seit Gwent und Carmarthen einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Trotzdem: Wenn er in den Spiegel blickte, war er nicht zufrieden. Die Reise, die er sich vorgenommen hatte, war noch lange nicht zu Ende.