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In diesem Haus entdeckte Elizabeth, dreizehnjährig, die Wurzeln ihrer Familie. Und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie, dass sie irgendwohin gehörte, dass sie Teil eines Ganzen war.

Es begann an dem Tag, als sie das Buch fand. Ihr Vater war nach Olbia gefahren, und Elizabeth kletterte in ihr geliebtes Turmzimmer. Die Bücher in den Regalen interessierten sie nicht, denn sie wusste längst, wovon die meisten handelten: von Pharmakologie, Heilkunde oder multinationalen Gesellschaften und Handelsrecht. Sie fand sie stumpfsinnig und langweilig. Ein paar seltene Manuskripte wurden hinter Glas aufbewahrt, ein medizinisches Werk auf lateinisch, betitelt »Circa Instanz«, das aus dem Mittelalter stammte, und ein zweites, das »De Materia Medica« hieß. Weil Elizabeth Latein lernte und auf die alten Ausgaben neugierig war, öffnete sie den Glaskasten und nahm ein Buch heraus. Dahinter war ein zweites versteckt, wie sie zu ihrer Überraschung feststellte. Sie zog es hervor, es war umfangreich, in rotes Leder gebunden und trug keinen Titel.

Elizabeths Neugier war geweckt. Sie schlug den Band auf, und es schien, als hätte sie das Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen. Was sie vor sich sah, war eine Biographie ihres Ururgroßvaters Samuel Roffe, geschrieben in englischer Sprache und auf feinstem Pergament gedruckt, offensichtlich im Selbstverlag. Ein Autor war nicht genannt, ebensowenig ein Datum, aber Elizabeth war sicher, das Buch musste über hundert Jahre alt sein. Die meisten Seiten waren verblasst, andere vergilbt, vom Zahn der Zeit befallen. Aber das alles war unwichtig, nur der Inhalt zählte, eine Geschichte, die jene beiden Porträts in der Eingangshalle zum Leben erweckte. Hundertmal hatte Elizabeth die Bilder ihrer Ururgroßeltern betrachtet: ein altmodisch wirkendes Paar in fremdartiger Kleidung. Der Mann war nicht hübsch, aber sein Gesicht drückte Stärke und Intelligenz aus. Er hatte blondes Haar, hohe slawische Backenknochen und lebhafte hellblaue Augen. Die Frau war eine Schönheit: dunkles Haar, makelloser Teint und Augen so schwarz wie Kohle. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit einem Überrock und einem Mieder aus Brokat.

Zwei Fremde, ohne Bedeutung für Elizabeth.

Aber jetzt, als sie allein im Turmzimmer saß und das Buch zu lesen begann, wurden Samuel und Terenia Roffe mit Leben erfüllt. Elizabeth war, als sei sie in eine andere Zeit versetzt. Sie lebte im Ghetto von Krakau, im Jahre 1853, bei den beiden. Als sie weiterlas und immer tiefer in das Geschehen eindrang, wurde ihr klar, dass ihr Ur-urgroßvater, der Gründer von Roffe und Söhne, ein Romantiker gewesen war, zudem ein Abenteurer.

Und ein Mörder.

8. Kapitel

Samuel Roffes früheste Erinnerung, las Elizabeth, war der Tod seiner Mutter. Sie kam 1855 bei einem Pogrom ums Leben, als Samuel fünf Jahre alt war. Er selbst war im Keller des kleinen Holzhauses, das die Roffes im Ghetto von Krakau mit anderen Familien teilten, versteckt worden. Viele quälende Stunden später, als der blutige Terror endlich vorüber war und das einzig Vernehmbare das Wimmern der Überlebenden, verließ Samuel vorsichtig sein Versteck und suchte in den Straßen des Ghettos nach seiner Mutter. Dem kleinen Jungen kam es vor, als stünde die ganze Welt in Flammen. Überall brannten die Holzhäuser, der Himmel war glutrot von der Feuersbrunst, und über den Straßen lag schwarzer Qualm in dicken Wolken. Männer und Frauen suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen oder mühten sich ab, ihre Läden, Wohnungen und überhaupt die wenige Habe zu retten. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es in Krakau zwar eine Feuerwehr, doch für Juden durfte sie nicht eingesetzt werden. Hier im Ghetto, am Rande der Stadt, mussten sie die Gluthölle aus eigener Kraft bekämpfen, mit Wasser, das sie mühsam aus ihren Brunnen holten. Dutzende von Menschen bildeten Eimerketten. Wohin Samuel auch blickte, begegnete er dem Tod, sah er verstümmelte Körper, nackte, vergewaltigte Frauen, Kinder, die blutend um Hilfe schrieen.

Samuel fand seine Mutter auf der Straße liegend, nur halb bei Bewusstsein, das Gesicht voller Blut. Mit wild klopfendem Herzen kniete der Junge neben ihr nieder. »Mama!«

Sie öffnete die Augen, erkannte ihn, versuchte zu sprechen, und Samuel wusste, dass sie im Sterben lag. Er hatte den verzweifelten Wunsch, sie zu retten, aber keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, und als er ihr sanft das Blut vom Gesicht wischte, war es schon vorbei.

Später stand Samuel stumm daneben, als der Beerdigungstrupp kam und behutsam den Boden unter der Leiche seiner Mutter aushob. Die Erde war mit ihrem Blut getränkt und musste nach den Regeln der Schrift zusammen mit ihr begraben werden, damit sie Gott als Ganzes wiedergegeben wurde.

In jenem Augenblick fasste Samuel einen Entschluss: Er würde Arzt werden.

Zusammen mit acht anderen Familien bewohnten die Roffes ein schmales dreistöckiges Holzhaus. Der kleine Samuel hauste in einem engen Gemach zusammen mit seinem Vater und der Tante Rachel. Sein Leben lang hatte er nie ein eigenes Zimmer besessen oder allein gegessen oder geschlafen. Jeder Moment seines Daseins war mit dem Klang von Stimmen angefüllt, doch Samuel sehnte sich nicht nach Abgeschiedenheit; er hatte keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gab. Sein Leben vollzog sich in einem überfüllten Labyrinth.

Jeden Abend wurden Samuel, seine Verwandten und Freunde von den Nicht-Juden in das Ghetto eingesperrt, genauso, wie die Juden selbst ihre Ziegen, Kühe und Hühner in die Pferche trieben.

Bei Sonnenuntergang wurden die massiven hölzernen Doppeltore des Ghettos geschlossen und mit einem großen Eisenschlüssel versperrt. Am folgenden Morgen, bei Sonnenaufgang, wurden die Tore wieder geöffnet, und die jüdischen Händler durften nach Krakau hinein und mit den Nicht-Juden Handel treiben, doch wenn es zu dämmern begann, mussten sie wieder innerhalb ihrer Mauern sein.

Samuels Vater stammte aus Russland. Er hatte einem Pogrom in Kiew entkommen und sich nach Krakau durchschlagen können, wo er auch seine Frau kennenlernte. Samuel kannte seinen Vater nur als gebeugten grauhaarigen Mann mit tief gefurchtem Gesicht. Der alte Roffe war ein Hausierer, der mit seinem Karren voller Kurzwaren, Tand und Gebrauchsgegenständen durch die engen, gewundenen Straßen des Ghettos zog. Der kleine Samuel lief sehr gern durch das emsige Menschengewühl auf den Pflastersteinstraßen. Er liebte die Gerüche von frischgebackenem Brot, getrocknetem Fisch, Käse, reifenden Früchten, Sägespänen und Leder. Stundenlang konnte er zuhören, wie die Trödler im Singsang ihre Waren anpriesen und die Hausfrauen sich keifend mit ihnen um die Preise stritten. Es gab kaum etwas, das hier nicht feilgeboten wurde: Linnen, Spitzen, Stoffe, Nähgarn, Leder, Fleisch, Gemüse, Nadeln, Schmierseife, gerupfte Hühnchen, Bonbons, Knöpfe.

An Samuels zwölftem Geburtstag nahm sein Vater ihn zum ersten Mal mit in die Stadt, nach Krakau. Schon die Aussicht auf den Ausflug erfüllte den Jungen mit großer Spannung: durch die verbotenen Tore zu gehen, Krakau kennenzulernen, zu sehen, wo die anderen Menschen wohnten, die Privilegierten, die Nicht-Juden.

Früh um sechs stand Samuel in seinem einzigen guten Anzug neben seinem Vater vor dem riesigen Tor zur Stadt, inmitten einer lauten Menge: Männer mit roh gezimmerten Hand- oder Schubkarren. Die Luft war schneidend kalt, und Samuel verkroch sich tief in seinen abgeschabten Mantel aus Schafswolle.

Es kam ihm vor, als seien Stunden vergangen, bis eine orangefarbene Sonne über dem östlichen Horizont erschien und erwartungsvolle Bewegung durch die Menge lief. Minuten später schwangen die gewaltigen Torflügel auf, und wie ein Heer emsiger Ameisen strömten die Händler der Stadt zu.