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Als sie sich der wunderbaren, schrecklichen Stadt näherten, schlug Samuels Herz immer schneller. Vor sich sah er die klotzigen Festungsbauten, die sich über der Vistula türmten. Fester umklammerte er den Arm des Vaters. Ja, er war wirklich in Krakau, umgeben von den gefürchteten Gojim, jenen Leuten, die seinesgleichen jede Nacht einsperrten. Verstohlen warf er ängstliche Blicke auf die Gesichter der Passanten. Wie anders sie doch aussahen! Sie trugen keine langen schwarzen Gewänder wie seine Leute, und manche waren sogar glattrasiert. Samuel und sein Vater strebten dem Rynek zu, dem mit Menschen und Waren vollgepferchten Markt. Sie kamen am großen Tuchhaus vorbei, dann an der doppeltürmigen Marienkirche. Nie zuvor hatte Samuel solche Pracht gesehen. Die neue Welt steckte voller Wunder. Der mächtigste Eindruck war jedoch das aufregende Gefühl von Freiheit, von weitem, ausladendem Raum. Es nahm ihm den Atem. Die Häuser an den Straßen standen alle einzeln, nicht zusammengedrängt, und fast jedes hatte einen kleinen Vorgarten. Sicherlich, dachte Samuel, war jeder, der in Krakau lebte, ein reicher Mann. Sein Vater suchte ein halbes Dutzend Lieferanten auf, wo er Ware einkaufte, die er in den Wagen lud. Als der voll war, machten sich die beiden auf den Weg zurück zum Ghetto.

»Können wir nicht noch etwas bleiben?« bettelte Samuel.

»Nein, mein Sohn. Wir müssen heim.«

Doch Samuel wollte nicht heim. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Welt jenseits der Mauern gesehen, und er war so überwältigt davon, dass ihm fast der Atem stockte. Dass Menschen so leben durften, die Freiheit besaßen zu gehen, wohin immer sie wollten, zu tun, was immer ihnen beliebte... Warum war er nicht auch in Freiheit geboren? Sofort schämte er sich dieses Gedankens.

Doch an jenem Abend lag Samuel stundenlang wach. Er dachte an Krakau, die herrlichen Häuser mit ihren Blumen und Gärten. Auch für ihn musste es einen Weg in die Freiheit geben, und er musste ihn finden. Wie gern hätte er mit jemandem über die Gefühle gesprochen, die ihn bestürmten. Aber es gab weit und breit keine Menschenseele, die ihn verstanden hätte.

Elizabeth legte das Buch nieder. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, fühlte sich in Samuels Einsamkeit versetzt, seine Aufregung und seine Frustration.

Und in diesem Moment begann Elizabeth, sich mit ihrem Vorfahren zu identifizieren, zu spüren, dass sie ein Teil von ihm war. Sein Blut floss in ihren Adern. Das Bewusstsein, irgendwo hinzugehören, war eine Offenbarung, berauschte sie.

Sie hörte das Auto ihres Vaters vorfahren, und schnell stellte sie das Buch an seinen Platz zurück. Während ihres Aufenthaltes in der Villa hatte sie keine Gelegenheit zum Weiterlesen, aber als sie nach New York zurückkehrte, lag das Buch ganz unten in ihrem Koffer versteckt.

9. Kapitel

Nach Sardiniens warmer Wintersonne kam ihr New York wie Sibirien vor. Die Straßen waren voll Schnee und Matsch, und vom Hast River fegte ein eiskalter Wind. Elizabeth machte das nichts aus. Sie lebte in Polen, in einem anderen Jahrhundert, erlebte die Abenteuer ihres Ururgroßvaters, teilte sein Schicksal. Jeden Nachmittag, gleich nach der Schule, eilte sie in ihr Zimmer, schloss sich ein und holte das Buch hervor. Ein paarmal hatte sie erwogen, mit ihrem Vater darüber zu sprechen, aber sie unterließ es aus Angst, er könne ihr den Band wegnehmen.

Elizabeth merkte, ihr war ein herrliches, unerwartetes Wunder beschert worden: Der alte Samuel gab ihr Mut, half ihr, in der Welt zu bestehen. Wie sehr sie doch einander ähnelten! Samuel war ein Einzelgänger, hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Ganz genau wie ich, dachte Elizabeth. Und weil sie fast im gleichen Alter waren, wenngleich ein Jahrhundert auseinander, konnte sie sich ganz mit ihm identifizieren.

Samuel wollte Arzt werden.

Im Ghetto von Krakau waren nur drei Ärzte zugelassen, für Tausende von Menschen, die in dem ungesunden, von Epidemien bedrohten Pferch leben mussten. Der wohlhabendste von den dreien war Dr. Zeno Wal. Aus der ärmlichen Umgebung ragte sein Haus hervor wie ein Königspalast inmitten eines Elendsviertels, drei Stockwerke hoch, die Fenster geschmückt mit frischgewaschenen, spitzenverzierten Gardinen; dahinter konnte man flüchtig den Glanz polierter Möbel erkennen. Samuel malte sich den Arzt in seinem prächtigen Heim aus, wie er seine Patienten versorgte, sie heilte, all das, was er selbst sich als Lebensinhalt ersehnte. Sicherlich könnte jemand wie Dr. Wal ihm helfen, Arzt zu werden, dachte Samuel, wenn er ihn nur für sich einnehmen konnte. Aber von Samuels Warte aus war Dr. Wal ebenso unerreichbar wie die Glücklichen, die außerhalb der Ghettomauern lebten.

Hin und wieder beobachtete Samuel aus gebührendem Abstand den großen Dr. Zeno Wal, wie er in ernster Unterhaltung mit einem Kollegen durch die Straßen wandelte. Als Samuel eines Tages am Waischen Haus vorbeikam, ging die Tür auf, und der Doktor trat mit seiner Tochter heraus. Sie war ungefähr in Samuels Alter und das liebreizendste Geschöpf, das er je gesehen hatte. Im selben Augenblick wusste er, sie würde seine Frau werden. Er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, wusste nur, dass es geschehen würde.

Danach fand Samuel jeden Tag irgendeinen Vorwand, sich bei dem Haus von Dr. Wal aufzuhalten, immer in der Hoffnung, die Tochter für einen Augenblick zu Gesicht zu bekommen.

Eines Nachmittags, als ein Botengang Samuel an dem Haus vorbeiführte, hörte er Klaviermusik und wusste sofort: Das konnte nur sie sein. Er musste sie sehen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er unbeobachtet war, schlich Samuel sich an die Seite des Hauses. Die Musik kam vom oberen Stockwerk, aus einem Fenster direkt über seinem Kopf. Samuel trat zurück und betrachtete die Hauswand. Es gab Mauervorsprünge genug, wo er Halt finden konnte, und ohne einen Moment zu zögern, machte er sich an den Aufstieg. Doch der erste Stock war höher, als es von unten ausgesehen hatte, und bevor er das Fenster erreichte, war er schon über drei Meter vom Boden entfernt. Er blickte hinunter, und ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Aber die Musik klang lauter als vorher. Er spürte: Sie spielte für ihn. Also nahm er sich zusammen, klammerte sich an den nächsthöheren Halt und zog sich vollends aufs Fenstersims. Ganz langsam hob er den Kopf, um nach drinnen zu blicken. Durch die Scheibe sah er ein erlesen möbliertes Wohnzimmer. Das Mädchen saß an einem weiß-goldenen Klavier und spielte, und dahinter hatte es sich Dr. Wal in einem Sessel bequem gemacht, ein Buch vor den Augen. Samuel verschwendete kaum einen Blick an ihn, er konnte immer nur das schöne Mädchen dort, kaum ein paar Meter von ihm entfernt, anstarren. Er liebte sie! Er würde etwas unternehmen, etwas ganz Waghalsiges und Spektakuläres, damit sie ihm ihre Liebe schenkte. Er würde... So versunken war Samuel in seinen Tagtraum, dass er den Halt lockerte und unversehens die Reise in die Tiefe antrat. Er stieß einen Schrei aus, sah nur noch, wie ihn von drinnen zwei erschreckte Gesichter anstarrten.

Als er aufwachte, lag er auf einem Behandlungstisch in Dr. Wals Praxis, die mit zahlreichen Medizin- und Instrumentenschränken ausgestattet war. Dr. Wal hielt Samuel einen stinkenden Wattebausch unter die Nase. Samuel würgte und setzte sich auf.

»Na, das ist schon besser«, meinte der Arzt. »Eigentlich sollte ich dir das Gehirn herausoperieren, aber ich bezweifle, dass du eins hast. Also, Junge, was wolltest du stehlen?«

»Nichts.« Samuel war entrüstet.

»Wie heißt du?«

»Samuel Roffe.«

Der Arzt tastete das rechte Handgelenk ab, und der Junge schrie vor Schmerz laut auf.

»Hm. Du hast dir das Gelenk gebrochen, Samuel Roffe. Das Richten sollten wir vielleicht besser der Polizei überlassen.«