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Samuel stöhnte, diesmal vor Angst. Er sah vor sich, was ihn erwartete, wenn die Polizei ihn wie einen Sünder zu Hause ablieferte. Seiner Tante Rachel würde auf der Stelle das Herz brechen, sein Vater ihn umbringen. Jedoch, was weit wichtiger war: Wie konnte er jetzt noch hoffen, jemals Dr. Wals Tochter zur Frau zu gewinnen? War er von nun an nicht ein Verbrecher, ein Gezeichneter? Samuel fühlte unvermutet einen stechenden Schmerz an seinem Handgelenk und sah voller Entsetzen zu Dr. Wal auf.

»Schon gut«, sagte dieser. »Das Gelenk ist wieder eingerenkt.« Und er machte sich daran, den Arm zu schienen. »Lebst du hier in der Nachbarschaft, Samuel?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Aber ich hab’ dich doch schon hier herumlungern sehen.«

»Ja, das stimmt.«

»Warum?«

Warum? Wenn Samuel die Wahrheit sagte, würde ihn der Arzt auslachen.

»Ich will auch Arzt werden«, entfuhr es ihm; er hatte nicht an sich halten können.

Und plötzlich hörte Samuel seine eigene Stimme, hörte sich die ganze Geschichte preisgeben. Er erzählte, wie seine Mutter auf der Straße umgekommen war, berichtete von seinem Vater, über seinen ersten Besuch in Krakau und seine Verzweiflung darüber, jeden Abend wie ein Tier in das Ghetto eingesperrt zu werden. Er sprach von seinen Gefühlen für Dr. Wals Tochter, sagte alles, was sich in ihm angestaut hatte, und der Arzt hörte schweigend zu. Sein Bericht kam ihm selbst lachhaft und albern vor, und als er geendet hatte, fügte er schüchtern hinzu: »Ich - ich bitte um Entschuldigung. Es tut mir so leid.«

Dr. Wal sah ihn lange an. »Mir tut es auch leid«, sagte er schließlich. »Für dich und für mich, für uns alle. Jeder Mensch ist ein Gefangener, und die größte Ironie ist, Gefangener eines anderen Menschen zu sein.«

Samuel sah erstaunt zu ihm auf. »Das verstehe ich nicht.«

Der Doktor seufzte. »Eines Tages wirst du es verstehen.« Langsam erhob er sich, ging zu seinem Schreibtisch, wählte eine Pfeife aus und stopfte sie sorgfältig. »Ich fürchte, das ist ein rabenschwarzer Tag für dich, Samuel.«

Er zündete die Pfeife an, blies das Streichholz aus und wandte sich wieder dem Jungen zu. »Damit meine ich nicht dein gebrochenes Handgelenk. Das heilt schon wieder. Aber ich sehe mich gezwungen, dir etwas anzutun, was keineswegs so schnell heilen wird.« Samuel beobachtete ihn mit großen Augen. Dr. Wal trat zu ihm. Seine Stimme klang sanft und freundlich. »Sehr wenig Leute haben jemals einen Traum. Du, Samuel, hast zwei Träume. Ich fürchte, ich muss sie dir beide zerstören.«

»Ich -«

»Hör mir einmal gut zu, Samuel. Du wirst nie Arzt werden können, nicht hier in unserer Welt. Im Ghetto dürfen nur drei von uns praktizieren. Und es gibt hier Dutzende hervorragender Ärzte, die nur darauf warten, unseren Platz einzunehmen, wenn einer von uns sich zur Ruhe setzt oder stirbt. Du hast also keine Chance. Nicht die geringste. Du bist zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Samuel schluckte. »Jawohl, Herr Doktor.«

Nach kurzem Zögern fuhr der Arzt fort: »Und was deinen zweiten Traum betrifft, ich fürchte, der ist genauso unmöglich. Es ist undenkbar, dass du Terenia je zur Frau bekommst.«

»Warum?« brachte Samuel heraus.

Dr. Wal starrte ihn an. »Warum? Aus demselben Grund, der es dir verbietet, Arzt zu werden. Wir leben nach gesellschaftlichen Regeln, unseren Traditionen getreu. Meine Tochter wird jemanden aus ihrer eigenen Klasse heiraten, einen Mann, der ihr den Lebensstil bieten kann, den sie gewohnt ist, einen Rechtsanwalt zum Beispiel, einen Arzt oder einen Rabbi. Du aber -also, du musst sie dir aus dem Kopf schlagen.«

»Aber -«

Doch der Arzt drängte ihn schon sanft zur Tür. »Sieh zu, dass in einigen Tagen jemand nach deinem geschienten Arm schaut. Der Verband muss gewechselt werden.«

»Jawohl, Herr Doktor«, sagte Samuel. »Vielen Dank auch.« Der Doktor sah den blonden Jungen mit dem aufgeweckten Gesicht noch einmal eindringlich an. »Viel Glück, Samuel.«

Am Nachmittag darauf, gleich nach der Essenszeit, klingelte Samuel an der Tür des Waischen Hauses. Dr. Wal beobachtete ihn durch das Fenster. Ihm war klar, dass er ihn eigentlich wegschicken musste.

»Bringen Sie ihn herein«, sagte er zu dem Hausmädchen.

Danach kam Samuel zwei- bis dreimal pro Woche zu Dr. Wal. Er erledigte Botengänge für den Arzt, und zur Entschädigung durfte er dabeisein, wenn Dr. Wal Patienten behandelte oder in seinem Laboratorium Arzneien herstellte. Der Junge beobachtete, lernte, vergaß nichts. Er war ein Naturtalent. In Dr. Wal wuchsen Schuldgefühle; denn er wusste, er machte Samuel Mut für einen Weg, den er niemals beschreiten konnte. Trotzdem brachte er es nicht über sich, dem Jungen die Tür zu weisen.

Ob Zufall oder Absicht: Terenia war fast immer zugegen, wenn Samuel ins Haus kam. Manchmal erhaschte er einen Blick auf sie, wenn sie am Labor vorbeiging oder das Haus verließ. Einmal lief er ihr in der Küche aus Versehen fast in die Arme, und sein Herz hämmerte so rasend, dass er meinte, er müsse in Ohnmacht fallen. Sie betrachtete ihn lange, ihr Blick hatte etwas Forschendes. Dann verschwand sie mit einem kühlen Nicken. Wenigstens hatte sie von ihm Notiz genommen! Das war der erste Schritt, der Rest nur noch eine Frage der Zeit. In Samuel kam auch nicht der geringste Zweifel auf. Der Weg war vom Schicksal vorgezeichnet. In seinen Tagträumen von der Zukunft spielte Terenia jetzt eine Hauptrolle. Hatte er früher nur für sich selbst geträumt, so tat er es nun für sie beide. Irgendwie würde er es schaffen, sie und sich aus dem Ghetto, diesem stinkenden, überfüllten Gefängnis, zu befreien. Er selbst, das wusste er, würde großen Erfolg im Leben haben. Aber dieser Erfolg war nicht auf ihn allein beschränkt, sondern galt ihnen beiden.

Obwohl das alles ganz unmöglich war.

Über der Geschichte des alten Samuel schlief Elizabeth ein. Als sie am Morgen danach aufwachte, verbarg sie das Buch sorgfältig, bevor sie sich für die Schule fertigmachte. Samuel ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Wie stellte er es an, Terenia zu heiraten, was tat er, um dem Ghetto zu entfliehen? Und wie wurde er berühmt? Die Geschichte hatte sie ganz in Besitz genommen, und sie war ärgerlich über jede Störung, die sich zwischen sie und das Buch drängte und sie wieder in das zwanzigste Jahrhundert trieb.

Zu Elizabeths Schulpensum gehörte Ballettunterricht, den sie verabscheute. Immer, wenn es soweit war, zwängte sie sich in ihr rosa Ballettröckchen, stellte sich vor den Spiegel und versuchte, sich einzureden, sie besäße einen reifen, sinnlichen Körper. Aber aus dem Glas blickte ihr die Wahrheit entgegen: Sie war fett. Eine Ballettänzerin würde aus ihr nie werden.

Kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag stand ihr wieder einmal die Tortur bevor. Ihre Tanzlehrerin, Mme. Netturova, verkündete, in zwei Wochen sei die alljährliche Ballettaufführung; zu diesem Anlass würden die Eltern ins Auditorium geladen. Elizabeth geriet in Panik. Allein der Gedanke, sich vor Zuschauern auf der Bühne produzieren zu müssen, war ihr unerträglich. Da konnte sie nicht mitmachen.

Verzweifelt suchte sie nach Auswegen.

Ein Kind rannte über die Straße, direkt vor ein Auto. Elizabeth, Zeugin des Unfalls, sprang auf die Fahrbahn und rettete das Kind in letzter Sekunde aus den Klauen des Todes. Leider, meine Damen und Herren, streifte ein Rad ihren Fuß, und sie brach sich die Zehen. Deshalb kann Elizabeth Roffe heute abend nicht auftreten.

Ein Hausmädchen hatte achtlos ein Stück Seife oben an der Treppe liegenlassen. Elizabeth rutschte aus, fiel die Treppe hinunter und zog sich einen Beckenbruch zu. Keine komplizierte Angelegenheit, sagte der Arzt. In drei Wochen ist alles verheilt.

Aber das wahre Leben bot keinen Ausweg. Am Tag der Vorstellung war Elizabeth bei bester Gesundheit, aber hochgradig hysterisch. Wieder half ihr der alte Samuel. Ihr fiel ein, welche Angst er ausgestanden hatte. Und trotzdem hatte er es gewagt, Dr. Wal unter die Augen zu treten. Nein, sie würde nichts tun, um Samuel Schande zu bereiten. Das Schicksal sollte sie auf ihrem Platz finden.