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Ihrem Vater gegenüber hatte Elizabeth die bevorstehende Aufführung nicht einmal erwähnt. Verschiedene Male hatte sie ihn gebeten, sie zu Schulfeiern zu begleiten oder zu Partys, bei denen die Anwesenheit der Eltern erwünscht war, aber nie hatte er Zeit gehabt.

Am Abend selbst, als Elizabeth sich gerade für die Aufführung fertigmachte, kam ihr Vater von einer zehntägigen Reise zurück.

Er ging an ihrem Schlafzimmer vorbei, sah sie und sagte: »Guten Abend, Elizabeth«, und dann, nach kurzer Musterung: »Du hast zugenommen.«

Elizabeth bekam einen roten Kopf und versuchte, den Bauch einzuziehen. »Ja, Vater.«

Er wollte etwas hinzufügen, besann sich aber anders. »Wie geht’s in der Schule?«

»Danke, sehr gut.«

»Irgendwelche Probleme?«

»Nein, Vater.«

»Na bestens.«

Der Dialog, all die Jahre über hundertmal praktiziert, war eine bedeutungslose Litanei, offenbar aber ihre einzige Kommunikationsform. Wie-geht’s-in-der-Schule-danke-sehr-gut-irgendwelche-Pro-bleme-nein-Vater-na-bestens. Zwei Fremde beim Gespräch über das Wetter, keiner hörte zu, keinem lag an der Meinung des anderen. Doch, einem von uns schon, dachte Elizabeth.

Diesmal aber blieb Sam Roffe stehen und betrachtete seine Tochter mit nachdenklichem Gesicht. Er war es gewöhnt, mit handfesten Dingen fertig zu werden, doch obwohl er spürte, dass es hier Probleme gab, hatte er keine Ahnung, worum es ging. Und hätte es ihm jemand gesagt, hätte er geantwortet: »Was für ein Blödsinn. Elizabeth hat alles, was sie sich nur wünschen kann.«

Ihr Vater wollte gerade wieder gehen, als Elizabeth sich sagen hörte: »Wir... meine Ballettklasse hat heute abend eine Aufführung. Ich mache auch mit. Du willst doch nicht kommen, oder?«

Die Worte waren noch nicht heraus, da griff es ihr eiskalt ans Herz. Sie wollte ihn nicht zum Zeugen ihrer Tolpatschigkeit haben. Warum, um alles in der Welt, hatte sie davon gesprochen? Aber sie wusste genau, warum. Weil sie nämlich das einzige Mädchen der Klasse war, dessen Eltern nicht im Zuschauerraum sitzen würden. Macht nichts, beruhigte sie sich. Er sagt sowieso nein. Wütend über sich selbst schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab. Und traute ihren Ohren nicht, als sie hinter sich ihren Vater sagen hörte: »Aber ja, ich komme.«

Das Auditorium war überfüllt mit Eltern, Freunden und Verwandten, die den von Klaviermusik begleiteten Darbietungen der jungen Ballettratten bewundernd folgten. Die ganze Zeit über war Mme. Netturova auf der Bühne zu sehen. Sie zählte laut den Takt mit, um so ihren bedeutenden Anteil an diesen Darbietungen zu unterstreichen.

Ein paar Kinder waren ungemein graziös und zeigten echtes Talent. Die anderen ersetzten Können durch Begeisterung. Das hektographierte Programm kündigte drei Musikstücke an:    Auszüge aus »Coppelia«, »Qnderella« und, natürlich, »Schwanensee«. Im piece de resistance wurde jedem Kind die Gelegenheit geboten, sich in einer Solopartie zu präsentieren.

Hinter der Bühne verging Elizabeth fast vor Angst. Das Lampenfieber hatte sie gepackt. Immer wieder lugte sie durch den Vorhang, und jedes Mal, wenn sie ihren Vater vorn, in der Mitte der zweiten Reihe, erblickte, hätte sie sich ohrfeigen können. Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, ihn einzuladen! Bis dahin war es ihr nicht schwergefallen, sich bei den Gruppendarbietungen im Hintergrund zu halten, versteckt hinter dem Rücken der Kameradinnen. Aber jetzt stand ihr eine Solopartie bevor. Sie fühlte sich dick und unbeholfen in ihrem Röckchen, wie ein Fettwanst im Zirkus. Wenn sie die Bühne betrat, würden bestimmt alle in helles Gelächter ausbrechen. Und sie selbst hatte ihren Vater dazu bewogen, ihrer Demütigung beizuwohnen. Ihr einziger Trost war: Es würde schnell vorbei sein. Ihr Solo dauerte nur sechzig Sekunden. Mme. Netturova war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. In Wirklichkeit ging das so fix, dass niemand sie richtig wahrnehmen würde, sagte sich Elizabeth. Und ihr Vater brauchte nur einen Augenblick den Kopf wegzudrehen, dann war alles ausgestanden.

Als Elizabeth die anderen Mädchen beobachtete, wie sie nacheinander über die Bühne hüpften, kamen sie ihr alle vor wie die Markowa, die Maximowa und die Fonteyn. Eine kalte Hand legte sich auf ihren Arm. Mme. Netturova zischelte: »Auf die Bühne, Elizabeth, du bist dran!«

Elizabeth versuchte ein artiges »Oui, Madame«, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die beiden Pianisten stimmten die vertrauten Eingangstakte ihres Solos an. Sie stand da wie angewurzelt, keiner Bewegung fähig. »Mach, dass du rauskommst!« presste Mme. Netturova zwischen den Zähnen hervor. Elizabeth spürte einen derben Schubs im Rücken, und da stand sie allein auf der Bühne, halb nackt, vor hundert unfreundlichen Fremden. Ihren Vater wagte sie gar nicht anzusehen. Sie wollte nur das Drama so schnell wie möglich hinter sich bringen und das Weite suchen. Ihre Darbietung war denkbar einfach, ein paar Schritte, Drehungen und Sprünge. Sie machte die ersten Tanzschritte, versuchte, im Takt der Musik zu bleiben und sich selbst als eine schlanke, hochgewachsene und biegsame Tänzerin vorzustellen. Als sie fertig war, tröpfelte höflicher Beifall. Elizabeth sah hinab in die zweite Reihe, und da saß ihr Vater, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. Er applaudierte lebhaft - applaudierte ihr, Elizabeth! In diesem Augenblick ging etwas in ihr vor. Die Musik hatte aufgehört. Aber Elizabeth setzte ihren Tanz fort, tanzte und tanzte, drehte sich, hüpfte, schwebte in einer anderen Welt, hatte ihren plumpen Körper weit hinter sich gelassen. Die verwirrten Musiker fingen wieder zu spielen an, versuchten, ihren Takt zu erhaschen, erst der eine, dann der andere. Im Hintergrund der Bühne führte Mme. Netturova wahre Veitstänze auf, das Gesicht wutverzerrt. Aber Elizabeth nahm sie überhaupt nicht wahr. Worauf es allein ankam: Sie hatte die Bühne für sich erobert und tanzte - tanzte für ihren Vater.

»Mr. Roffe, Sie verstehen doch sicher, dass die Schule ein derartiges Benehmen einfach nicht dulden kann!« Mme. Netturovas Stimme zitterte vor Zorn. »Ihre Tochter hat sich in ihrem Egoismus über die Interessen ihrer Kameradinnen hinweggesetzt und die Bühne für sich okkupiert, als ob - als ob sie was Besonderes wäre. Das waren ja Starallüren!«

Elizabeth fühlte, wie ihr Vater sie ansah, und hatte Angst, seinen Augen zu begegnen. Sie wusste, ihr Benehmen war unverzeihlich, aber sie hatte einfach nicht aufhören können. Für ein paar unendlich kostbare Augenblicke da oben auf der kleinen Bühne hatte sie versucht, ihrem Vater ein Wunder vorzuzaubern, ihn zu beeindrucken. Damit er Notiz von ihr nahm, stolz auf sie war. Damit er sie liebte.

Jetzt hörte sie seine Stimme. »Sie haben ganz recht, Madame. Ich werde dafür sorgen, dass Elizabeth die angemessene Strafe bekommt.«

Mme. Netturova sah Elizabeth triumphierend an. »Verbindlichen Dank, Mr. Roffe. Ich überlasse die Angelegenheit selbstverständlich Ihnen.«

Dann standen Elizabeth und ihr Vater draußen auf der Straße. Seitdem sie die Schule verlassen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gefallen. Elizabeth legte sich eine Entschuldigung zurecht - aber was konnte sie schon sagen? Wie konnte sie ihrem Vater zu verstehen geben, was sie getrieben hatte? Neben ihr stand ein Fremder, und sie hatte Angst vor ihm. Häufig war sie Zeuge gewesen, wenn er seinen Zorn an Leuten ausließ, die Fehler gemacht oder es gewagt hatten, ihm nicht zu gehorchen. Sie stand ergeben da, in Erwartung des Unvermeidlichen.

Er wandte sich ihr zu. »Elizabeth, weißt du was? Wir machen einen Abstecher zu Rumpelmayer und essen Schokoladeneis.«

Elizabeth brach in Tränen aus.

In jener Nacht lag sie hellwach in ihrem Bett, zum Schlafen viel zu aufgeregt. Immer wieder ließ sie den Abend an sich vorbeiziehen. Sie konnte ihre Erregung nicht unterdrücken. Denn das war kein gewöhnlicher Tagtraum. Das war Wirklichkeit. Sie sah sich und ihren Vater bei Rumpelmayer, umgeben von den vielen farbenprächtigen ausgestopften Tieren: Bären, Elefanten, Löwen, Zebras. Elizabeth hatte sich ein Bananensplit bestellt, das sich als zu riesig für sie erwies, aber ihr Vater hatte kein Wort der Kritik geäußert. Er unterhielt sich ganz zwanglos mit ihr. Nicht auf die übliche Weise: Wie-geht’s-in-der-Schule-danke-sehr-gut und so weiter. Nein, er sprach ganz vernünftig mit ihr. Er erzählte von seiner jüngsten Reise nach Tokio und wie sein Gastgeber ihm Heuschrecken mit Schokoladensauce und Ameisen als besondere Delikatesse servierte und er sie hatte kosten müssen, um sein Gesicht nicht zu verlieren.

Als Elizabeth das Eis aufgegessen hatte, fragte ihr Vater plötzlich: »Warum hast du das vorhin getan, Liz?«

Sie wusste, jetzt war alles vorbei, nun kam doch noch die große Schelte, und sie würde hören, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte.

Ihre Antwort hieß: »Ich wollte besser sein als die anderen.« Was sie gern hinzugesetzt hätte, brachte sie nicht über die Lippen: für dich, Vater.

Er sah sie prüfend an; es schien ihr wie eine Ewigkeit. Dann lachte er plötzlich. »Du warst wirklich die Sensation des Abends.« Und in seiner Stimme schwang hörbar Stolz mit.

Elizabeth fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Du bist also nicht böse auf mich?«

In seinem Blick lag etwas, das sie nie zuvor bemerkt hatte. »Böse? Weil du die Beste sein wolltest? Das ist der Stoff, aus dem die Roffes gemacht sind.« Er tätschelte ihre Hand.

Und als Elizabeth langsam in Schlaf versank, waren ihre letzten Gedanken: Mein Vater mag mich, er mag mich wirklich. Jetzt werden wir immer Zusammensein. Er wird mich auf seine Reisen mitnehmen. Wir reden über alles und werden dicke Freunde.

Am nächsten Nachmittag rief die Sekretärin ihres Vaters an. Alle Vorbereitungen waren getroffen: Elizabeth wurde in ein Schweizer Internat geschickt.