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Samuel war fasziniert von der Vielzahl von Arzneien, mit denen man Menschen heilen konnte. Eine Papyrusrolle der alten Ägypter aus dem Jahr 1550 vor Christus zählte 811 verschiedene Mittel auf. Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung fünfzehn Jahre, und Samuel brauchte sich nur ein paar der genannten Mittel anzusehen, um zu begreifen, warum.

Da war die Rede von Krokodildung, Eidechsenfleisch, dem Blut von Fledermäusen, Kamelspucke, Löwenleber, Froschzehen und Einhornpulver. Das Zeichen RX an jedem Mittel bedeutete ein Gebet aus uralter Zeit an Hör, den ägyptischen Gott, der die neues Leben spendende Sonne verkörperte.

Die Apotheken im Ghetto wie auch in Krakau selbst waren äußerst primitiv. Flaschen und Töpfchen waren meist mit willkürlich zusammengemischten und unerprobten Heilmitteln gefüllt, einige davon völlig nutzlos, andere sogar schädlich. Samuel lernte sie alle kennen: Rizinusöl, Kalomel, Rhabarber, Jod-Mixturen, Codein und Brechwurz. Es gab Universalmittel zu kaufen gegen Keuchhusten, Koliken und Typhus. Da keinerlei sanitäre Vorkehrungen üblich waren, steckten die Salben und Gurgelwässer voller toter Insekten, Schaben, Rattendreck, kleiner Federn und Pelzhaare. Die meisten Patienten, die derlei Mittel einnahmen, starben entweder an ihren Krankheiten oder an den Arzneien.

Mehrere Zeitschriften waren im Umlauf, die sich mit Arzneimittelkunde befassten, und Samuel verschlang sie alle. Seine Theorien erörterte er mit Dr. Wal.

»Es ist doch logisch anzunehmen«, sagte er im Brustton der Überzeugung, »dass es für jede Krankheit eine Heilung geben muss. Gesundheit ist ein natürlicher, Krankheit ein unnatürlicher Zustand.«

»Schon möglich«, entgegnete Dr. Wal. »Aber die meisten von meinen Patienten lassen nicht mal zu, dass ich neue Heilmittel bei ihnen anwende.« Und trocken fügte er hinzu: »Womit sie wohl auch nicht unrecht haben.«

Dr. Wals kleine pharmakologische Bibliothek kannte Samuel bald in- und auswendig. Und obwohl er die Bücher wieder und immer wieder gelesen hatte, nahmen die ungeklärten Fragen zu, und er fühlte sich frustriert.

Samuel war von der medizinischen und pharmazeutischen Revolution geradezu besessen. Gab es doch tatsächlich Wissenschaftler, die glaubten, Krankheitsursachen könnten beseitigt werden, indem man Widerstandskraft erzeugte, die den Keim des Übels erstickte. Auch Dr. Wal versuchte sich einmal daran. Er entnahm einem Diphtheriekranken Blut und injizierte es einem Pferd. Als das Pferd starb, gab er die Experimente auf. Aber der junge Samuel war überzeugt davon, dass sich Dr. Wal auf dem richtigen Weg befunden hatte.

»Sie können doch jetzt nicht einfach aufhören«, beschwor er ihn. »Ich weiß, dass es die richtige Methode ist.«

Aber Dr. Wal schüttelte den Kopf. »Das kommt, weil du erst siebzehn bist, Samuel. Hast du erst mal mein Alter erreicht, bist du dir deines Wissens nicht mehr so sicher. Vergessen wir die Sache.«

Aber Samuel vergaß weder, noch war er überzeugt. Er wollte unbedingt die Experimente fortsetzen. Doch dafür brauchte er Tiere, und die Auswahl war nicht groß, nur streunende Katzen und Ratten, die er sich fangen konnte. So gering die Dosen auch waren, die Samuel ihnen injizierte, die Tiere starben ihm unter der Hand weg. Sie sind zu klein, dachte Samuel. Ich brauche ein größeres Tier, ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf. Aber wie sollte er daran kommen?

An einem Spätnachmittag, als Samuel nach Hause kam, stand vor dem Haus ein altes Pferd mit einem klapprigen Wagen. Auf dem Wagen war mit groben Buchstaben aufgemalt: roffe & sohn. Samuel starrte ihn ungläubig an, rannte ins Haus, auf der Suche nach seinem Vater. »Das - das Pferd da draußen«, keuchte er. »Wo hast du’s her?«

Der Vater lächelte voller Stolz. »Hab’ ein Geschäft gemacht. Mit dem Pferd können wir längere Wege zurücklegen, mehr verdienen. Und in vier oder fünf Jahren, wer weiß, vielleicht reicht’s dann zu einem zweiten. Stell dir vor, dann haben wir zwei Pferde.«

Seines Vaters Ehrgeiz zielte also auf zwei Pferde, alte, klapprige Gäule, die ihre Karren durch die schmutzigen, engen Straßen des Ghettos zogen. Samuel hätte am liebsten geheult.

In jener Nacht, als alles schlief, schlich er in den Stall und untersuchte das Pferd. Sie hatten es auf den Namen »Ferdl« getauft. Zweifellos gehörte Ferdl zu den elendsten seiner Gattung. Es war uralt, hatte ein hohles Kreuz und lahmte. Samuel kam es äußerst zweifelhaft vor, ob sich der Karren mit dem Pferd schneller vorwärtsbewegen ließ als mit dem Vater. Aber das alles spielte keine Rolle. Einzig wichtig war für Samuel, dass er jetzt sein Versuchstier hatte. Von nun an konnte er experimentieren, ohne sich erst mühsam Ratten oder Katzen zu beschaffen. Selbstverständlich musste er vorsichtig zu Werke gehen. Sein Vater durfte nie dahinterkommen. Samuel streichelte dem Pferd den Kopf. »Von nun an bist du im Arzneigeschäft tätig«, informierte er Ferdl.

In einer Stallecke, dicht neben dem Pferd, richtete Samuel sich provisorisch ein Labor ein.

In einer Schüssel mit fetter Brühe züchtete er Diphtheriebakterien. Als die Brühe wolkig-trüb wurde, goss er etwas davon in einen anderen Behälter und schwächte die Mischung ab, indem er die Brühe erst verdünnte und dann leicht erhitzte. Darauf füllte er eine hypodermische Spritze mit der Flüssigkeit und trat an das Pferd heran. »Weißt du noch, was ich dir vorausgesagt habe?« flüsterte er. »Also, das ist heute dein großer Tag.«

Und er spritzte den Inhalt unter die schlaffe Pferdehaut, dicht an der Schulter, wie er es bei Dr. Wal gesehen hatte. Ferdl drehte den Kopf, sah ihn vorwurfsvoll an und rächte sich mit einer Urindusche.

Nach Samuels Berechnungen würde es etwa zweiundsiebzig Stunden dauern, bis sich die Kultur im Tier entwickelt hatte. Am Ende dieser Zeitspanne würde er ihm eine größere Dosis verabreichen. Dann noch eine. Wenn die Antikörper-Theorie stimmte, würde mit jeder Dosis ein stärkerer Blutwiderstand gegen die Krankheit aufgebaut. Und Samuel hatte seinen Impfstoff. Später musste er ihn dann auch an einem Menschen ausprobieren, aber da sah er kein Problem. Jedes Opfer der gefürchteten Krankheit würde nur zu gern ein Mittel ausprobieren, das ihm das Leben retten konnte.

Die nächsten beiden Tage verbrachte Samuel fast ununterbrochen im Stall bei Ferdl.

»So eine Tierliebe hab’ ich noch nie gesehen«, bemerkte sein Vater. »Kannst dich wohl gar nicht von ihm trennen, was?« Samuel murmelte etwas Unverständliches. Sein heimliches Tun bereitete ihm Schuldgefühle, aber er wusste, was fällig war, wenn er seinem Vater auch nur eine Silbe davon verriet. Außerdem war es auch gar nicht nötig, seinen Vater einzuweihen. Alles, was Samuel haben wollte, war etwas Blut von Ferdl für ein oder zwei Röhrchen Serum, und niemand brauchte je dahinterzukommen.

Am Morgen des dritten und entscheidenden Tages wachte Samuel von einem fürchterlichen Geschrei auf. Es war die Stimme seines Vaters. Hastig stand Samuel auf und sah aus dem Fenster. Da stand sein Vater mit dem Wagen und zeterte, was die Lungen hergaben. Vom Pferd war weit und breit nichts zu sehen. Samuel warf sich ein paar Kleidungsstücke über und lief auf die Straße.

»Verbrecher!« kreischte der Vater. »Betrüger! Lügner! Dieb!«

Um ihn herum sammelte sich eine Menschenmenge an. Samuel bahnte sich einen Weg.

»Wo ist Ferdl?« wollte er wissen.

»Gute Frage, prächtige Frage!« jammerte der Vater. »Wo kann er schon sein? Tot ist er. Auf der Straße verreckt wie ein Hund.«

Samuels Herz sank.

Sein Vater setzte die laute Klage fort. »Da sind wir unterwegs, ganz gemächlich, bitte sehr. Ich mach’ meine Geschäfte wie jeden Tag, nichts Besonderes. Nein, wirklich, ich hab’ ihn nicht getriezt oder mit der Peitsche geschlagen wie andere Trödler, deren Namen ich nennen könnte, wenn du mich fragst. Nichts da, bin ich doch wie ein Vater zu dem Gaul. Und womit dankt er’s mir? Fällt um und ist tot. Wenn ich den Kerl fasse, der ihn mir verhökert hat, den bring’ ich um!«