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Samuel wandte sich ab; es zerriss ihm das Herz. Er hatte mehr verloren als einen Gaul. Seine Träume waren gestorben. Der Tod des Pferdes bereitete allem ein Ende: der Flucht aus dem Ghetto, der Freiheit, dem schönen Haus für Terenia und die Kinder.

Aber das Schicksal schlug noch härter zu.

Am Tag nach Ferdls Tod erfuhr Samuel, dass Terenias Heirat mit einem Rabbi beschlossene Sache sei. Samuel konnte es nicht glauben. Terenia gehörte ihm! Er rannte zum Waischen Haus. Dr. Wal und seine Frau hielten sich im Wohnzimmer auf. Samuel trat vor sie hin, holte tief Luft und verkündete: »Hier muss ein Irrtum vorliegen. Terenia wird mich heiraten.«

In wortlosem Erstaunen starrten sie ihn an.

»Ja, ja, ich weiß, ich bin nicht gut genug für sie«, fuhr Samuel hastig fort. »Aber sie wird mit keinem anderen glücklich als mit mir. Der Rabbi ist viel zu alt für -«

»Nebbich! Raus hier! Raus, raus!« Terenias Mutter war der Ohnmacht nahe.

Und eine Minute später fand sich Samuel auf der Straße wieder, belegt mit striktestem Hausverbot für alle Zeiten.

Diese Nacht hielt er lange Zwiesprache mit Gottvater.

»Was hast du dir eigentlich gedacht, was willst du von mir? Wenn ich Terenia nicht für mich haben kann, warum hast du dann gemacht, dass ich sie liebe? Hast du denn gar kein Herz?« Voller Verzweiflung hob er die Stimme und rief: »Hörst du mich?«

»Wir hören dich alle, Samuel«, klang es vielstimmig durch die dünnen Wände zurück. »Um Gottes willen, halt das Maul und lass uns schlafen.«

Am darauffolgenden Nachmittag ließ Dr. Wal nach Samuel schicken. Der Junge wurde ins Wohnzimmer geführt, wo sich der Arzt, seine Frau und Terenia befanden.

»Da hat sich ein Problem ergeben«, eröffnete ihm der Arzt. »Unsere Tochter kann, wenn es ihr beliebt, äußerst hartnäckig sein. Aus unerfindlichen Gründen hat sie einen Narren an dir gefressen, Samuel. Von Liebe kann man da wohl nicht reden, weil ich nicht glaube, dass junge Damen wissen, was das eigentlich ist. Wie dem auch sei, sie weigert sich, Rabbi Rabinowitz zu ehelichen. Sie bildet sich ein, sie will nur dich.«

Samuel wagte einen Seitenblick auf Terenia. Sie lächelte ihm zu, und er glaubte, sein Herz müsste vor Freude zerspringen. Aber es war ein kurzlebiges Glücksgefühl.

Denn Dr. Wal fuhr fort: »Du hast gesagt, du liebst meine Tochter.«

»J-j-ja, Herr Doktor«, stammelte Samuel. Er versuchte es noch mal, diesmal ging es ihm glatter von der Zunge. »Jawohl.«

»Dann will ich dich etwas fragen, Samuel. Möchtest du, dass Terenia für den Rest ihres Lebens die Frau eines Trödlers ist?« Samuel erkannte die Falle sofort, aber es gab keinen Weg an ihr vorbei. Noch einmal sah er Terenia an, dann sagte er bestimmt: »Nein, Dr. Wal.«

»Aha. Also bist du dir des Problems bewusst. Niemand von uns will Terenia mit einem Trödler verheiratet sehen. Du aber bist ein Trödler, Samuel.«

»Doch ich werde nicht immer einer sein, Dr. Wal.« Samuels Stimme war von Überzeugungskraft getragen.

»Und was wirste dann sein wollen?« fauchte Madame Wal. »Kommste aus einer Trödlerfamilie, wirste immer einer bleiben. So einer kommt für meine Tochter nicht in Frage, das lass’ ich nicht zu.«

Samuel sah die drei an; in seinem Kopf drehte sich alles. Gekommen war er in Angst und tiefster Verzweiflung, war auf höchste Gipfel der Freuden emporgehoben worden, um dann um so tiefer in den Abgrund gestoßen zu werden. Was wollten sie eigentlich von ihm?

Er sollte nicht lange im unklaren bleiben. »Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt«, verkündete Dr. Wal. »Wir geben dir sechs Monate. So lange hast du Zeit zu beweisen, dass mehr in dir steckt als nur ein Trödler. Wenn du nach Ablauf dieser Frist Terenia nicht das Leben bieten kannst, das ihrem Stand angemessen ist, wird sie Rabbi Rabinowitz heiraten.«

Samuel konnte ihn nur anstarren. »Sechs Monate!«

In sechs Monaten konnte niemand das Schicksal besiegen. Und schon gar nicht einer, der im Ghetto von Krakau lebte.

»Hast du verstanden?« fragte Dr. Wal.

»Jawohl.« Samuel verstand nur zu gut. Er fühlte sich, als hätte er den Bauch voll Blei. Was er brauchte, war nicht die Lösung für ein Problem, sondern ein schieres Wunder. Die Wals, soviel war ihm klar, würden nur einen Schwiegersohn akzeptieren, der eine von drei Bedingungen erfüllte: Arzt zu sein oder ein Rabbi oder reich. Im Geist ging Samuel alle drei Möglichkeiten durch.

Arzt zu werden war ihm gesetzlich verwehrt.

Rabbi? Das Studium zur Erlangung der Rabbinerwürde begann mit dreizehn. Samuel war schon fast achtzehn.

Reich? Das lag noch weniger im Rahmen seiner Möglichkeiten. Selbst wenn er vierundzwanzig Stunden pro Tag schuftete, seine Waren in den Ghetto-Straßen feilhielt, auch noch mit neunzig, würde er ein armer Mann bleiben. Nein, die Wals hatten ihm eine unmögliche Aufgabe gestellt. Scheinbar waren sie zwar auf Terenias Willen eingegangen, hatten die Heirat mit dem Rabbi aber in Wahrheit nur aufgeschoben, indem sie ihm, Samuel, Bedingungen stellten, die er nie erfüllen konnte. Einzig Terenia glaubte an ihn. Sie baute auf ihn, hatte die Zuversicht, dass es ihm binnen sechs Monaten auf irgendeine Weise gelingen konnte, zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Eigentlich ist sie noch verrückter als ich, dachte Samuel, aber das linderte seine Verzweiflung auch nicht.

Die Sechsmonatsfrist begann, und von nun an verflog die Zeit geradezu. Das Trödlergeschäft nahm ihn von morgens bis abends in Anspruch. Aber sobald die Schatten der sinkenden Sonne auf die Ghettomauern fielen, lief er nach Hause. Er nahm sich kaum Zeit, einen Bissen herunterzuschlingen, dann begann das Experimentieren in seinem Laboratorium. Er züchtete Serumkulturen zu Hunderten, impfte Kaninchen, Katzen, Hunde und Vögel, und alle Tiere starben. Die sind zu klein, dachte Samuel voller Verzweiflung. Ich brauche ein größeres Tier.

Aber er hatte keines, und die Zeit flog dahin.

Zweimal in der Woche zog Samuel mit dem Wagen nach Krakau, um Waren einzukaufen. Vor Sonnenaufgang stand er bereits vor dem verschlossenen Tor, inmitten der anderen Trödler, aber er nahm sie nicht wahr. Sein Geist befand sich in einer anderen Welt.

Als Samuel eines frühen Morgens wieder einmal dort stand und seinen Tagträumen nachhing, wurde er angeherrscht: »He, du! Jude, beweg dich!«

Samuel fuhr hoch. Die Tore waren bereits geöffnet, und sein Karren blockierte den Weg. Einer der Wächter gestikulierte wütend, er solle weiterziehen. Vor dem Tor standen immer zwei Mann Wache. Sie hatten grüne Uniformen mit speziellen Abzeichen und waren mit Pistolen und schweren Prügeln bewaffnet. An einer Kette um die Taille trug einer der Wächter einen großen Schlüssel, mit dem das Tor auf- und zugeschlossen wurde. Parallel zum Ghetto strömte ein kleiner Fluss. Eine alte Holzbrücke führte zur anderen Seite, wo die Polizeikaserne lag und die Ghettowächter stationiert waren. Mehr als einmal war Samuel Zeuge geworden, wie ein unglücklicher Jude über die Brücke geschleift wurde. Das war jedes Mal eine Reise ohne Wiederkehr. Die Juden hatten bei Sonnenuntergang im Ghetto zurück zu sein, und jeder, der nach Einbruch der Dunkelheit draußen erwischt wurde, kam unter Arrest und wurde in ein Arbeitslager deportiert. Der Alptraum eines jeden Juden war es, nach Sonnenuntergang außerhalb des Ghettos gefasst zu werden.

Das Reglement sah vor, dass beide Wächter ständig auf Posten zu sein hatten und die ganze Nacht vor dem Tor patrouillierten. Doch jedermann wusste: Sobald sie die Juden eingeschlossen hatten, machte sich einer davon und kehrte erst frühmorgens, nach einer Nacht voll Saus und Braus in der Stadt, zurück, um seinem Kameraden beim Öffnen zu helfen.