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Die beiden Wächter, die in der Regel dort Dienst taten, hießen Paul und Aram. Paul war ein freundlicher Typ und umgänglich. Ganz anders Aram: ein Kerl wie ein Herkules, dunkel und derb, mit gewaltigen Armen und einem Körper wie ein Bierfass, ein Judenschinder vom Scheitel bis zur Sohle. Wenn er Dienst tat, waren die Juden besonders bedacht, pünktlich zu sein, denn nichts bereitete Aram mehr Spaß, als einen Juden auszusperren. Dann schlug er ihn mit seinem Prügel bewusstlos und zerrte ihn über die Brücke in die von allen gefürchtete Polizeikaserne.

Aram war es, der Samuel anbrüllte, er solle sich gefälligst mit seinem Wagen wegscheren. Und als der Jüngling sich eilends durch das Tor und auf den Weg zur Stadt machte, spürte er Arams bohrenden Blick im Rücken.

Samuels sechs Monate schmolzen schnell dahin. Es wurden fünf, dann vier, dann drei. Es gab keinen Tag, keine Stunde, da Samuel nicht über seinem Problem brütete oder in dem kleinen schäbigen Labor fieberhaft an seinen Versuchen arbeitete. Zuweilen unternahm er es, einige der wohlhabenden Händler aus dem Ghetto anzusprechen, aber kaum jemand nahm sich überhaupt die Zeit, ihn anzuhören, und die es taten, hatten ihm nur wenig hilfreiche Ratschläge zu geben.

»Du willst Geld verdienen? Spare jeden Pfennig, mein Junge, und eines Tages kannst du dir so ‘n schönes Geschäft kaufen, wie ich eins habe.«

Die hatten leicht reden. Die meisten waren in wohlhabende Familien hineingeboren worden.

Samuel fasste den Gedanken, mit Terenia durchzubrennen. Aber wohin? Am Ende ihrer Reise würden sie in einem neuen Ghetto landen, er selbst immer noch ein mittelloser Nebbich. Nein, er hatte Terenia viel zu lieb, um ihr das anzutun.

Und die Uhr lief gnadenlos weiter. Die drei Monate schmolzen auf zwei zusammen, dann auf einen. Samuels einziger Trost lag in der Erlaubnis, während dieser ganzen Zeit seine geliebte Terenia dreimal die Woche sehen zu dürfen, unter Aufsicht, versteht sich. Und bei jedem Zusammentreffen fühlte Samuel, wie seine Liebe noch tiefer wurde. Es war ein bittersüßes Gefühl, denn je öfter er sie sah, desto näher rückte der Zeitpunkt, da er sie unwiderruflich verlieren würde. »Du findest einen Weg«, ermutigte Terenia ihn dann stets.

Aber schließlich waren es nur noch drei Wochen, und Samuel stand der Lösung nicht näher als zu Anfang.

Eines späten Abends tauchte Terenia bei Samuel im Stall auf. Sie legte ihm die Arme um den Hals und flüsterte: »Lass uns weglaufen, Samuel.«

Nie hatte er sie so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Sie war bereit, die Schande auf sich zu nehmen, Vater und Mutter und ihrem bequemen Leben zu entsagen. Und das alles nur für ihn.

Er presste sie an sich. »Es geht nicht, mein Liebes. Wo wir auch immer hingehen, ich bin nur ein Trödler.«

»Mir macht das nichts aus.«

Samuel dachte an ihr schönes Heim mit den vielen Zimmern, dem Personal und dem ganzen Komfort. Und dann dachte er an das enge, schäbige Glass, das er mit seinem Vater und seiner Tante teilte, und er sagte: »Aber mir macht es etwas aus, Terenia.«

Sie drehte sich um und ging.

Am nächsten Morgen begegnete Samuel auf der Straße einem früheren Schulfreund namens Isaac. Der führte ein Pferd am Zügel. Das Tier hatte nur ein Auge, litt an akuter Kolik, lahmte und war taub.

»Guten Morgen, Samuel.«

»Guten Morgen, Isaac. Ich weiß ja nicht, wohin du mit dem armen Gaul da willst, aber du solltest dich beeilen. Der sieht nicht so aus, als ob er es noch lange macht.«

»Braucht er auch nicht. Das ist Lottie, und ich bringe sie in die Abdeckerei.«

Samuel beäugte die alte Pferdedame mit plötzlich erwachtem Interesse. »Na, glaub ja nicht, dass die dir viel für sie geben.«

»Weiß ich selbst. Will ja nur zwei Gulden, um einen Karren zu kaufen.«

Samuels Herz fing schneller zu schlagen an. »Schätze, ich kann dir den Weg ersparen. Ich gebe dir meinen Karren für dein Pferd.«

Die beiden brauchten nicht einmal fünf Minuten, um handelseinig zu werden.

Nun musste Samuel nur noch einen neuen Karren zimmern und seinem Vater eine Geschichte auftischen, wie er den alten losgeworden und an ein Pferd gekommen war, das lahmte und fast blind war.

Samuel führte Lottie in die Scheune. Bei näherer Untersuchung sah die alte Mähre noch desolater aus als ihr Vorgänger. Samuel klopfte dem Tier den Rücken. »Nur keine Angst, Lottie. Du wirst in die Geschichte der Medizin eingehen.«

Und ein paar Minuten später hatte Samuel bereits ein neues Serum in Arbeit.

Die aufs äußerste beengten und völlig unhygienischen Verhältnisse im Ghetto führten immer wieder zu Epidemien. Die neueste Heimsuchung war ein Fieber besonderer Art. Es brachte quälenden Husten, geschwollene Drüsen und einen elenden Tod. Die Seuche verbreitete sich schnell, und die Ärzte kannten weder den Erreger noch einen Wirkstoff dagegen. Isaacs Vater wurde von der Krankheit befallen. Als Samuel davon hörte, eilte er zu ihm.

»Der Doktor ist dagewesen«, berichtete Isaac weinend. »Er sagt, man kann nichts mehr tun.«

Von oben hörte Samuel ein furchtbares Krächzen.

»Du musst was für mich tun«, bat Samuel. »Hol mir ein Taschentuch von deinem Vater.«

Isaac starrte ihn an. »Ein Taschentuch?«

»Ja, und zwar ein gebrauchtes. Und geh vorsichtig damit um. Es wird voller Bakterien stecken.«

Eine Stunde später war Samuel wieder im Stall. Vorsichtig kratzte er das Sputum in eine kleine Schüssel voll Brühe.

Er arbeitete die ganze Nacht, den nächsten und den darauffolgenden Tag, injizierte der geduldigen Lottie zunächst kleine Dosen der Substanz, dann größere. Er kämpfte gegen die Zeit und um das Leben von Isaacs Vater.

Gleichzeitig kämpfte Samuel um sein eigenes Leben.

Er wurde sich auch später nie darüber klar, ob der liebe Gott das alte Pferd oder ihn hatte retten wollen. Auf jeden Fall überlebte Lottie die Injektionen, und schließlich hatte Samuel sein erstes Quantum Antitoxin. Seine nächste Aufgabe bestand darin, Isaacs Vater zur Anwendung zu überreden. Doch wie sich herausstellte, bedurfte es dazu keiner großen Anstrengung. Als Samuel in Isaacs Haus kam, fand er dort die ganze Verwandtschaft, die den Sterbenden beweinte.

»Es geht bald zu Ende«, berichtete ihm Isaac.

»Kann ich ihn sehen?«

Die beiden Jungen gingen nach oben. Isaacs Vater lag im Bett, das Gesicht vom Fieber gerötet. Jeder seiner heftigen Hustenanfälle schüttelte mehr Substanz aus dem ausgemergelten Körper. Er lag ganz offensichtlich im Sterben.

Samuel holte tief Luft. »Ich möchte mit dir und deiner Mutter etwas bereden.«

Keiner der beiden setzte auch nur die geringste Zuversicht in die kleine Glasröhre, die Samuel mitgebracht hatte, aber die Alternative lautete: Tod. Und weil es ohnehin nichts zu verlieren gab, gingen sie das Risiko ein.

Samuel injizierte Isaacs Vater das Serum. Drei Stunden harrte er neben dem Bett aus, aber der Zustand blieb unverändert. Das Serum zeigte keine Wirkung. Im Gegenteil, die Hustenanfälle wurden eher schlimmer und kamen in schnellerer Folge. Schließlich ging Samuel und versuchte, Isaacs Blick zu meiden.

Am nächsten Morgen, in der Dämmerung, musste Samuel nach Krakau, um Waren einzukaufen. Er selbst fühlte sich wie im Fieber, so ungeduldig war er, wieder zurückzukehren und zu erkunden, ob Isaacs Vater noch lebte.

Die Märkte waren überfüllt, und es erschien Samuel wie eine Ewigkeit, bis er seine Waren zusammenhatte. Als der Karren schließlich beladen war und er sich auf den Weg ins Ghetto machte, stand die Nachmittagssonne schon tief am Himmel.

Samuel war noch gut drei Kilometer vom Tor entfernt, da schlug das Schicksal zu. Ohne Vorankündigung zerbrach eines der Wagenräder, das Gefährt kippte um, und die Ladung ergoss sich auf die Straße. Samuel sah sich in einem bösen Dilemma: Er musste ein anderes Rad auftreiben, wagte aber nicht, den Wagen unbewacht zurückzulassen. Schon sammelte sich eine Menschenmenge an; begehrliche Blicke galten den Gegenständen auf dem Pflaster. Samuel sah einen uniformierten Polizisten näher kommen, und er wusste sich verloren. Jetzt würden sie ihm alles wegnehmen, der Polizist war kein Jude. Majestätisch schob sich der Ordnungshüter durch die Menge. Er baute sich vor dem verängstigten Jungen auf. »Dein Karren braucht ein neues Rad, wie ich sehe.«