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»Ja-jawohl, mein Herr.«

»Weißt du, wo du eins bekommst?«

»Nein, mein Herr.«

Der Polizist kritzelte etwas auf ein Stück Papier. »Da geh hin. Sag dem Mann, was du brauchst.«

»Ich kann den Wagen doch nicht allein lassen«, wandte Samuel ein.

»Doch, das kannst du.« Der Polizist warf den Umstehenden einen strengen Blick zu. »Ich werde ihn bewachen, keine Sorge. Beeil dich aber.«

Samuel rannte den ganzen Weg. Den Anweisungen auf dem Zettel folgend, landete er schließlich bei einem Schmied. Nachdem Samuel ihm seine Lage geschildert hatte, suchte der Mann ein Rad in passender Größe heraus. Samuel zahlte aus der kleinen Barschaft, die er bei sich trug. Es blieb nur noch ein halbes Dutzend Gulden übrig.

Das Rad vor sich her rollend, rannte er zum Karren zurück. Dort stand immer noch der Polizist; die Menge hatte sich verlaufen. Mit Hilfe des Ordnungshüters montierte er das neue Rad an. Sie brauchten eine halbe Stunde dazu. Dann endlich konnte sich Samuel auf den unterbrochenen Heimweg machen. Seine Gedanken waren einzig und allein bei Isaacs Vater. Würde er ihn tot vorfinden, oder lebte er noch? Samuel meinte, die Spannung nicht einen Augenblick länger ertragen zu können.

Inzwischen war er nur noch gut anderthalb Kilometer vom Ghetto entfernt. Schon sah er die hohe Mauer sich gegen den Himmel abzeichnen. Und als er sie noch anblickte, ging die Sonne am westlichen Horizont unter; die ihm fremden Straßen wurden in Dunkelheit gehüllt. In der ganzen Aufregung hatte Samuel völlig die Zeit vergessen. Es war nach Sonnenuntergang, und er befand sich noch draußen auf den Straßen! Er fing zu rennen an, stieß den schweren Karren vor sich her. Schließlich schien ihm das Herz zu zerspringen, und das nicht allein vor Anstrengung. Bestimmt waren die Tore des Ghettos bereits geschlossen. Nur zu gut kannte Samuel all die schlimmen Geschichten über jene Juden, die abends ausgesperrt waren. Er rannte noch schneller. Wahrscheinlich war jetzt, wie meistens, nur noch ein Wächter am Tor. Handelte es sich um Paul, den netteren, hatte Samuel eine hauchdünne Chance. Stand dort aber Aram - Samuel wagte gar nicht, sich auszudenken, was dann geschah. Die Dunkelheit wurde immer dichter, umfing ihn wie ein schwarzes Tuch, und es begann leicht zu regnen. Samuel näherte sich den Ghettomauern, noch zwei Straßenecken, dann ragte das riesige Tor vor ihm auf. Es war verschlossen.

Noch nie hatte Samuel das geschlossene Tor von außen gesehen. Es war, als hätte sich sein Leben plötzlich umgestülpt, und die Angst ließ ihn zittern. Er bewegte sich jetzt ganz langsam vorwärts, näherte sich dem Tor mit äußerster Vorsicht. Dabei hielt er Ausschau nach den Wächtern. Sie waren nicht zu sehen. Vielleicht war aus irgendeinem Grund Alarm gegeben worden, und die beiden hatten fortgemusst. Dann würde er einen Weg finden, das Tor zu öffnen oder ungesehen über die Mauer zu klettern. Als er bis auf wenige Meter heran war, trat ein Wächter aus dem Schatten.

»Komm nur näher!« befahl er.

In der Finsternis konnte Samuel das Gesicht nicht sehen. Aber er erkannte die Stimme. Es war Aram.

»Näher! Hierher!«

Aram sah Samuel entgegen, ein Grinsen auf dem Gesicht. Der Junge zögerte.

»Nichts da!« rief der Wächter. »Immer schön weitermarschiert!«

Als sich Samuel langsam dem Riesen näherte, drehte sich ihm der Magen um. In seinem Kopf hämmerte es wie wild. »Bitte...«, stammelte er. »Bitte lassen Sie mich erklären. Ich hatte einen Unfall. Mein Wagen -«

Eine Hand, groß wie ein Schinken, kam hervorgeschossen, packte Samuel am Kragen und hob ihn hoch. Seine Füße baumelten in der Luft. »Du dummer kleiner Judenlümmel!« Seine Stimme hatte einen genüsslichen Tonfall angenommen. »Meinst du, mich interessiert, warum du noch draußen bist? Du stehst auf der falschen Seite des Tores, das ist alles, was zählt. Weißt du, was jetzt mit dir geschieht?«

Das Entsetzen schnürte Samuel die Kehle zu. Er schüttelte den Kopf.

»Dann will ich es dir sagen. Letzte Woche erst ist ein neues Edikt erlassen worden. Alle Juden, die nach Sonnenuntergang vor den Toren aufgegriffen werden, kommen in einen Transport nach Schlesien. Zehn Jahre Zwangsarbeit. Na, wie schmeckt dir das?«

Samuel konnte nicht glauben, was er gehört hatte. »Aber ich - ich hab’ doch gar nichts getan. Ich -«

Mit der rechten Hand schlug ihm Aram hart ins Gesicht, ließ ihn dann auf den Boden fallen. »Auf geht’s!«

»Wo-wohin?« Samuels Stimme klang vor Angst wie erstickt. »In die Polizeikaserne. Morgen früh gehst du auf die Reise. Mit dem anderen Pack. Los, steh auf!«

Samuel lag auf dem Boden, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich - ich muss mich von meiner Familie verabschieden.«

Aram grinste nur. »Die werden dich nicht mal vermissen.«

»Bitte -«, bettelte Samuel. »Lassen Sie mich doch wenigstens eine Nachricht schicken.«

Das Grinsen verschwand aus Arams Gesicht. Drohend türmte sich seine Gestalt über Samuel auf. Als er sprach, klang seine Stimme gefährlich leise. »Ich sagte, steh auf, Scheißjude! Wenn ich das noch einmal sagen muss, trete ich dir in den Bauch.«

Langsam raffte sich Samuel auf. Mit eisernem Griff packte Aram seinen Arm und schob ihn vor sich her in Richtung Polizeikaserne. Zehn Jahre Zwangsarbeit in Schlesien! Von dort war noch keiner zurückgekommen. Er sah zu dem Mann auf, der ihn gepackt hatte und ihn gnadenlos zur Brücke schleppte, hinter der die Polizeistation lag.

»Bitte, tun Sie das nicht«, flehte er. »Lassen Sie mich gehen.« Aber Aram drückte nur noch fester zu; in Samuels Arm staute sich das Blut. »Bettel nur weiter«, sagte Aram. »Ich genieße es, wenn Juden betteln. Hast du schon mal von Schlesien gehört? Du kommst gerade zurecht zur Winterszeit. Aber keine Angst, unter Tage, in den Minen ist es schön warm. Und wenn deine Lungen schwarz vor Kohle werden und du sie dir aus dem Leib hustest, dann lassen sie dich im Schnee liegen. Da kannst du dann krepieren.«

Vor ihnen, jenseits der Brücke, in Regen und Dunkelheit kaum auszumachen, ragten die schroffen Mauern der Kaserne auf.

»Schneller«, drängte Aram.

Und plötzlich war Samuel klar: Er durfte einfach nicht zulassen, dass ihm derartiges geschah. Er dachte an Terenia, seine Familie, Isaacs Vater. Nein, sein Leben gehörte ihm, das würde ihm niemand entreißen. Er musste entkommen, sich retten. Sie waren jetzt auf der schmalen Brücke. Unter ihnen gurgelte der Fluss; die winterlichen Regenfälle hatten ihn anschwellen lassen. Nun waren nur noch dreißig Meter zurückzulegen. Was immer zu tun war, musste auf der Stelle getan werden. Aber wie konnte er entkommen? Aram besaß eine Waffe, und sogar ohne Pistole hätte der Hüne ihn leicht umbringen können, war er doch fast zweimal so groß wie Samuel und wesentlich stärker. Inzwischen hatten sie die Brücke überquert; die Kaserne lag unmittelbar vor ihnen.

»Los, nun mach schon«, drängte Aram und stieß ihn vorwärts. »Ich hab’ noch mehr zu tun.«

Sie waren jetzt so nahe an dem Gebäude, dass Samuel von drinnen das Gelächter der Posten hören konnte. Arams Hände schlössen sich wieder fester um seinen Arm, und der Riese begann, den Jungen über den gepflasterten Hof zu zerren, der zur Wache führte. Samuel blieben nur noch Sekunden. Mit der Rechten langte er in die Tasche und fühlte den Geldbeutel mit dem halben Dutzend Gulden. Seine Finger schlössen sich um ihn, sein Blut kochte. Vorsichtig zog er mit der freien Hand den Beutel aus der Tasche, löste die Schnur und ließ ihn auf die Erde fallen. Mit lautem Klimpern rollten die Geldstücke über das Pflaster.