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Aram blieb stehen. »Was war das?«

»Nichts«, antwortete Samuel schnell.

Aram blickte den Jungen an und grinste. Ohne den Griff zu lockern, trat er einen Schritt zurück und sah den Geldbeutel. »Da, wo du hingehst, brauchst du kein Geld mehr.«

Er bückte sich, um den Beutel aufzuheben; gleichzeitig langte Samuel nach unten. Aram riss ihm den Geldbeutel unter der Hand weg. Aber Samuel hatte es gar nicht auf den Beutel abgesehen. Seine Hand schloss sich um einen der großen Pflastersteine, die dort herumlagen, und im Aufrichten schmetterte er Aram den Stein mit aller Wucht auf das linke Auge, das sich sofort in eine blutige Masse verwandelte. Und Samuel fuhr fort, auf ihn einzuschlagen, wieder und immer wieder. Die Nase des Riesen wurde plattgedrückt, bis Lippen und Mund eine offene Wunde, das ganze Gesicht nur noch eine blutrote Maske war. Immer noch stand Aram auf den Füßen wie ein blindes Monster. Krank vor Angst starrte Samuel ihn an, unfähig, weiter zuzuschlagen. Dann sackte der schwere Körper ganz langsam in sich zusammen. Samuel beugte sich über den toten Wächter und konnte nicht glauben, was er getan hatte. Plötzlich drangen die Stimmen aus der Wache in sein Bewusstsein und damit zugleich die Erkenntnis, in welcher Gefahr er sich befand. Wenn sie ihn jetzt zu fassen bekamen, würden sie ihn nicht mehr nach Schlesien schicken, sondern ihm die Haut bei lebendigem Leibe abziehen und ihn auf dem Marktplatz erhängen. Allein auf das Schlagen eines Polizisten stand die Todesstrafe. Samuel aber hatte einen umgebracht. Er musste weg, so schnell wie möglich. Aber was tun? Er konnte versuchen, über die Grenze zu fliehen, aber dann war er für den Rest seines Lebens ein gehetzter Flüchtling. Nein, es musste eine andere Lösung geben. Er starrte die gesichtslose Leiche an, und auf einmal erkannte er den einzigen Ausweg, den es gab. Er tastete den Toten nach dem großen Schlüssel für das Ghetto-Tor ab. Dann überwand er seinen Widerwillen, packte Aram an den Stiefeln und zog ihn zum Flussufer. Der Tote schien eine Tonne zu wiegen. Samuel zog und zog, angetrieben von dem Lärm aus der Wache. Endlich erreichte er das Ufer. Einen Moment des Atemholens gestattete er sich, dann schob er die Leiche über die Böschung ins aufgewühlte Wasser. Der tote Aram wurde langsam stromabwärts getrieben und verschwand aus seiner Sicht. Samuel stand stocksteif da, gelähmt vor Entsetzen über seine Tat. Er hob den blutigen Stein auf und warf ihn hinterher. Immer noch schwebte er in höchster Gefahr. Er drehte sich um und rannte zurück zum verschlossenen und verriegelten Tor des Ghettos. Niemand war zu sehen. Mit zitternden Fingern steckte Samuel den riesigen Schlüssel in das Schloss. Dann versuchte er, die schweren hölzernen Torflügel aufzuziehen. Vergebens: Sie bewegten sich nicht, waren zu schwer für ihn. In dieser Nacht war für Samuel jedoch nichts mehr unmöglich. Ihn durchströmte eine übernatürliche Kraft. Die Torflügel gaben nach, gingen auf. Er schob den Karren hinein, ließ die Tür ins Schloss fallen und eilte nach Hause. Die Familie war im Wohnzimmer versammelt. Als Samuel hereinkam, starrten sie ihn wie einen Geist an.

»Sie haben dich durchgelassen?«

»Wieso - ich - ich verstehe nicht«, stammelte sein Vater. »Wir dachten, du -«

Schnell berichtete Samuel, was geschehen war, und ihre Sorgen wichen blanker Angst.

»Oh, du mein Gott!« stöhnte sein Vater. »Jetzt bringen sie uns alle um!«

»Nicht, wenn ihr auf mich hört«, sagte Samuel. Er erklärte seinen Plan.

Eine Viertelstunde später standen Samuel, sein Vater und zwei Nachbarn vor dem Tor.

»Und wenn nun der andere Posten wiederkommt?« flüsterte sein Vater.

»Das Risiko müssen wir eingehen. Wenn er auftaucht, nehme ich die ganze Schuld auf mich.«

Samuel stieß das riesige Tor auf. Allein schlüpfte er hinaus, in der Erwartung, jeden Moment aus dem Dunkel gepackt zu werden. Aber nichts geschah. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Nun war das Ghetto-Tor von außen verriegelt. Samuel band sich den Schlüssel um die Taille und ging ein paar Schritte um die Mauer nach links. Einen Moment später wurde ein Seil für ihn herabgelassen. Samuel klammerte sich fest, und sein Vater und die anderen zogen ihn herüber.

»Oh, mein Gott«, murmelte sein Vater. »Was wird geschehen bei Sonnenaufgang?«

Samuel sah ihn an. »Bei Sonnenaufgang stehen wir alle hier drinnen vor dem Tor, trommeln und schreien, sie sollen uns endlich aufmachen.«

In der Morgendämmerung wimmelte das Ghetto von Uniformierten, Polizisten wie Soldaten. Bei Sonnenaufgang, als die Krämer und Händler drinnen zu toben anfingen, hatte die Obrigkeit mühsam erst einen Ersatzschlüssel auftreiben müssen. Paul, der zweite Posten, hatte gestanden, die ganze Nacht in Krakau verbracht zu haben, und war in Arrest genommen worden. Aber damit war das Rätsel um Aram nicht gelöst. Verschwand ein Wachtposten in unmittelbarer Nähe des Ghettos, so gab das schon Vorwand genug, um ein Pogrom zu entfachen und blutige Rache an den Juden zu nehmen. Diesmal aber kam die Obrigkeit an der Tatsache des verschlossenen Tores nicht vorbei. Da es sicher und fest von außen verriegelt war und die Juden sich drinnen befanden, konnten sie offensichtlich mit dem Verschwinden des Postens nichts zu tun haben.

Schließlich kam man zu dem Schluss, Aram müsste mit einer seiner vielen Freundinnen durchgebrannt sein. Wahrscheinlich hatte er, vermutete man, den hinderlichen Schlüssel einfach weggeworfen. Man suchte überall danach, aber vergebens. Das konnte auch gar nicht anders sein; denn in Wahrheit lag der Schlüssel tief in der Erde vergraben unter dem Keller von Samuels Haus.

Körperlich und seelisch total erschöpft, war Samuel in sein Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Plötzlich spürte er, wie jemand ihn wachrüttelte, und hörte eine gellende Stimme. Sein erster Gedanke war: Sie haben Arams Leiche gefunden. Jetzt holen sie mich.

Auf alles gefasst, schlug er die Augen auf. Neben seinem Bett stand Isaac, ganz aus dem Häuschen. »Das Fieber ist gefallen!« schrie er immer wieder. »Der Husten ist weg! Ein Wunder ist geschehen, komm mit, sieh selbst!«

Isaacs Vater saß aufrecht im Bett, Husten und Fieber waren verschwunden.

Als Samuel an das Bett trat, sagte der alte Mann: »Ich habe Hunger. Bringt mir denn niemand eine Tasse Hühnersuppe?« Samuel brach in Schluchzen aus.

Innerhalb eines Tages hatte er ein Leben vernichtet und eines gerettet.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Genesung im Ghetto. Die Familien sterbender Kranker versetzten das Roffesche Haus in regelrechten Belagerungszustand, flehten Samuel an, er möge einen Tropfen seines magischen Serums spenden. Es war ihm unmöglich, der Vielzahl der Anforderungen nachzukommen. Er ging zu Dr. Wal. Der Arzt hatte von seiner Tat gehört, zeigte sich aber skeptisch.

»Ich muss das mit eigenen Augen sehen«, meinte er.

»Gib mir ein Quantum von deinem Serum, und ich probier’ es an einem meiner Patienten aus.«

Die Anzahl der Anwärter war nur allzu groß, und Dr. Wal wählte einen Kranken, der seiner Ansicht nach dem Tod am nächsten stand. Vierundzwanzig Stunden später befand sich der Patient auf dem Wege der Besserung.

Dr. Wal begab sich in den Stall, wo Samuel Tag und Nacht mit der Herstellung von Serum beschäftigt gewesen war. »Es wirkt, Samuel. Du hast es vollbracht. Was wünschst du dir als Aussteuer?«

Samuel konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten. Seine Antwort lautete: »Noch ein Pferd.«

Das war 1868: das Geburtsjahr von Roffe und Söhne.

Samuel und Terenia heirateten. Die Mitgift bestand aus sechs Pferden und einem kleinen, exzellent eingerichteten Laboratorium. Sofort dehnte Samuel seine Experimente aus. Er destillierte Heilmittel aus Kräutern. Bald kamen die Nachbarn und kauften Arzneien gegen alle Gebrechen, von denen sie gerade heimgesucht wurden. Die Mittel wirkten, und Samuels Ruhm nahm zu. Wenn jemand nicht zahlen konnte, pflegte er zu sagen: »Macht nichts, nehmen Sie’s halt so mit.« Und zu Terenia: »Medizin ist zum Heilen da, nicht zum Geldverdienen.«