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Zwei Jahre später wurde Rhys Williams zum Geschäftsführer der Drogerie befördert. Der Distriktmanager der Kette sagte ihm bei dieser Gelegenheit voraus: »Das ist nur der Anfang, Williams. Mit harter Arbeit werden Sie es eines Tages zum Leiter von einem halben Dutzend unserer Filialen bringen.«

Rhys hätte ums Haar laut losgelacht. Als ob dies Ziel der Gipfel seines Ehrgeizes sein konnte! Er hatte in der Zwischenzeit nie aufgehört, sich weiterzubilden. Gerade damals beschäftigte er sich eingehend mit Management, Handelsrecht und Marketing. Er wollte mehr erreichen, wollte wie in seiner Vision ganz oben auf der Leiter stehen.

Rhys spürte, dass er sich noch auf den unteren Sprossen befand. Die Möglichkeit, höher zu kommen, ergab sich, als eines Tages ein Pharma-Vertreter ins Geschäft kam und Zeuge wurde, wie Rhys mehreren Kundinnen Präparate aufschwatzte, für die sie überhaupt keine Verwendung hatten. Der Mann sagte: »Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit, mein Junge, Ihre Fische schwimmen in einem größeren Teich.«

»Und was schwebt Ihnen da vor?« erkundigte sich Rhys.

»Ich werd’ mal mit meinem Boss reden.«

Zwei Wochen später arbeitete Rhys als Vertreter für die kleine pharmazeutische Fabrik. Dem äußeren Anschein nach war er einer von fünfzig Firmenvertretern, aber wenn Rhys in seinen inneren Spiegel blickte, wusste er, das sah nur so aus. Seine einzige wahre Konkurrenz war er selbst. Immerhin kam er seinem Bildnis, der von ihm geschaffenen Phantomgestalt, nun langsam näher: einem Mann, der zugleich intelligent, kultiviert, weltgewandt war und dazu einen überwältigenden Charme besaß. Er versuchte das Unmögliche. Jedermann wusste, mit solchen Eigenschaften musste man geboren sein, so was ließ sich nicht erlernen. Doch Rhys schaffte es. Er wurde zu dem Bildnis, das er sich selbst erschaffen hatte.

Er reiste durchs Land, vertrieb die Produkte seiner Firma, redete und hörte zu. Kam er nach London zurück, steckte er voller praktischer Anregungen. Und er begann, mit frappierender Schnelligkeit die Leiter hinaufzuklettern. Drei Jahre danach wurde Rhys zum Generalmanager des gesamten Vertriebs seiner Firma befördert, die sich unter seiner klugen Führung immer weiter ausdehnte.

Und wieder vier Jahre später war dann Sam Roffe in sein Leben getreten. Sam Roffe hatte den brennenden Ehrgeiz erkannt, der Rhys beherrschte.

»Sie sind genauso wie ich«, hatte Sam Roffe gesagt. »Wir wollen beide die Welt erobern. Ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.« Und er hatte sein Versprechen gehalten.

Sam Roffe war ihm ein glänzender Mentor gewesen.

Unter seiner Führung und Anleitung war Rhys Williams im Lauf der folgenden neun Jahre für den Konzern unentbehrlich geworden. Mit der Zeit wurde ihm immer mehr Verantwortung übertragen; er reorganisierte die verschiedensten Abteilungen, spielte Feuerwehr in allen Gegenden der Welt, wo immer es in der Verästelung des gigantischen Konzerns ein Problem gab, koordinierte die diversen Zweigstellen, entwickelte neue Konzeptionen. Schließlich wusste Rhys Williams über die Führung des Konzerns besser Bescheid als jeder andere, mit Ausnahme von Sam Roffe, natürlich. Rhys schien der designierte Nachfolger des Konzern-Chefs. Eines Morgens waren er und Sam Roffe aus Caracas zurückgekehrt. Sie flogen in einer konzerneigenen Maschine, einer umgebauten und luxuriös ausgestatteten Boeing 707-320    aus einer    Flotte von acht Düsenflugzeugen. Sam Roffe hatte Rhys zu einem äußerst lukrativen Vertrag beglückwünscht, den dieser der venezolanischen Regierung abgehandelt hatte.

»Das gibt einen dicken Bonus für Sie, Rhys.«

Rhys hatte mit ruhiger Stimme erwidert: »Ich möchte keinen Bonus, Sam. Lieber wäre mir ein Aktienanteil und ein Sitz im Direktorium.«

Genau das hatte er sich verdient, sie wussten es beide. Aber Sam hatte geantwortet: »So leid es mir tut, ich kann die eiserne Regel nicht brechen, nicht mal für Sie. Roffe und Söhne ist ein hundertprozentiges Familienunternehmen. Kein Außenseiter darf im Direktorium sitzen oder Aktien halten.«

Selbstverständlich wusste Rhys das auch. Er nahm an allen Direktoriumssitzungen teil, nur eben nicht als Vollmitglied. Er war ein Außenseiter. Im Roffeschen Stammbaum stellte Sam den letzten männlichen Vertreter dar. Die anderen Roffes waren Frauen, und die Männer, die sie geheiratet hatten, saßen im Direktorium des Konzerns: Walther Gassner, Ehemann der Anna Roffe, Ivo Palazzi, verheiratet mit Simonetta Roffe, Charles Martel, Ehemann von Helene Roffe, schließlich Sir Alec Nichols, dessen Mutter eine Roffe gewesen war.

Also sah sich Rhys gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Er wusste, er hatte es verdient, einen Sitz im Direktorium zu erhalten, mehr noch: eines Tages den Konzern zu führen. Die gegenwärtigen Umstände standen dem entgegen. Doch Umstände waren der Veränderung unterworfen. Rhys hatte sich entschlossen, zu bleiben und abzuwarten. Sam hatte ihn Geduld gelehrt. Und Sam war jetzt tot.

Wieder ging das gleißende Bürolicht an. Hadjib Kafir stand in der Tür. Kafir, der türkische Verkaufsmanager von Roffe und Söhne, war ein kleiner untersetzter Mann mit dunkler Haut, der seine Diamanten und den dicken Bauch wie Orden stolz spazieren führte. Im Moment hatte er das leicht zerzauste Aussehen eines Mannes, der in höchster Eile in seine Kleider geschlüpft war. Demnach hatte ihn Sophie doch nicht in einem Nachtclub aufgestöbert. Immerhin, dachte Rhys. Sam Roffes Tod hatte eine Nebenwirkung gezeitigt: Coitus Interruptus.

»Rhys!« rief Kafir. »Mein lieber, verehrter Freund, können Sie mir noch einmal verzeihen? Ich hatte keine Ahnung, dass Sie noch in Istanbul sind! Sie waren doch schon auf dem Weg zum Flugplatz, und ich hatte dringende Geschäfte...«

»Setzen Sie sich, Hadjib, und hören Sie genau zu. Ich will, dass Sie vier Telegramme aufgeben, und zwar verschlüsselt, im Konzern-Code. Alle in verschiedene Länder. Und ich bestehe auf persönlicher Zustellung durch den konzerneigenen Botendienst. Haben Sie mich verstanden?«

»Selbstverständlich.« Kafir schien völlig durcheinander.

Rhys sah auf die dünne goldene Armbanduhr von Baume & Mercier an seinem Handgelenk. »Die Post im neuen Stadtteil wird schon geschlossen haben. Schicken Sie die Telegramme von Yeni Posthane ab. Sie müssen in einer halben Stunde über den Ticker sein.« Er gab Kafir eine Kopie des Textes, den er aufgesetzt hatte. »Und jeder, der über diese Angelegenheit auch nur ein Wort verliert, wird auf der Stelle entlassen.«

Kafir blickte auf das Papier, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Mein Gott!« stieß er aus. »Oh, mein Gott!« Er sah hoch, in Rhys Williams’ düsteres Gesicht. »Wie - wie konnte das nur geschehen... Das ist ja furchtbar!«

»Sam Roffe wurde Opfer eines Unfalls«, erklärte Rhys.

Und jetzt gestattete sich Rhys zum ersten Mal, seine Gedanken der Angelegenheit zuzuwenden, die er die ganze Zeit aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Er hatte an alles denken wollen, nur an eines nicht: an Elizabeth Roffe, Sams Tochter. Vierundzwanzig war sie jetzt. Als Rhys ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte ihm eine Fünfzehnjährige mit Zahnspangen gegenübergestanden, pathologisch schüchtern, viel zu dick, ein einsamer kindlicher Rebell. Doch im Lauf der Jahre hatte Rhys miterlebt, wie aus dem Kind eine junge Frau ganz besonderer Art wurde, ausgestattet mit der Schönheit ihrer Mutter, der Intelligenz und dem lebhaften Temperament ihres Vaters. Sie und Sam waren eng verbunden. Rhys wusste, wie ungeheuer schwer die Nachricht sie treffen musste. Er würde sie ihr selbst überbringen müssen.