Zwar beteiligte sich Elizabeth weder beim frolage noch an den Wasserspielen, doch spürte sie, wie ihr sexuelles Verlangen sich regte. Um diese Zeit etwa machte sie eine bestürzende Entdeckung.
Eine ihrer Lehrerinnen war Chantal Harriot, eine kleine schlanke Frau Ende Zwanzig, selbst fast noch ein Schulmädchen. Ihr Gesicht war hübsch, wirkte beim Lächeln sogar schön. Elizabeth fand in ihr ein mitfühlendes Wesen, empfindsamer als alle anderen im Internat, und entwickelte eine starke Zuneigung zu ihr. Immer wenn sie sich unglücklich fühlte, ging Elizabeth zu Mlle. Harriot und sprach sich aus. Mlle. Harriot war eine verständnisvolle Zuhörerin. Bei solch einem Anlass pflegte sie Elizabeths Hand zu nehmen und sie sanft zu streicheln. Stets hatte sie guten Zuspruch parat sowie eine Tasse heiße Schokolade nebst Plätzchen, und Elizabeth fühlte sich alsbald getröstet.
Mlle. Harriot unterrichtete Französisch und außerdem das Fach Mode. Dabei legte sie vor allem Wert auf Stil, Harmonie der Farben und Accessoires: die Requisiten, wie sie sich ausdrückte.
»Eins dürft ihr nie vergessen, Mädels«, pflegte sie zu sagen. »Die erlesensten Kleider der Welt sehen nach nichts aus, wenn man die dazu passenden Requisiten vergisst.«
Immer wenn Elizabeth in ihrer warmen Badewanne lag, überraschte sie sich dabei, wie ihre Gedanken um Mlle. Harriot kreisten. Vor sich sah sie ihr Gesicht, wenn sie miteinander sprachen, spürte sie ihre warme, zärtliche Hand.
Auch in den anderen Stunden musste sie stets an Mlle. Harriot denken. Immer wieder erlebte sie nach, wie die Lehrerin ihre Arme um sie gelegt hatte, spürte ihre Tröstung, die leichte Berührung an den Brüsten. Und wie ein gewaltiger Schock kam Elizabeth die Erkenntnis.
Sie war lesbisch.
Jungen interessierten sie deshalb nicht, weil sie sich zu Mädchen hingezogen fühlte. Nicht zu den kleinen dummen Gänsen, ihren Klassenkameradinnen, nein, sie sehnte sich nach einem mitfühlenden, verständnisvollen Wesen, wie Mlle. Harriot es war.
Über Lesbierinnen hatte Elizabeth genug gelesen und gehört, um zu wissen, wie schwierig das Leben sich für sie gestaltete, ausgestoßen von der Gesellschaft. Aber, fragte sich Elizabeth: Was konnte falsch daran sein, wenn man sich tief und innig liebte? Mann oder Frau, spielte das dann noch eine Rolle? Kam es nicht einzig und allein auf das Gefühl an?
Elizabeth musste an ihren Vater denken, an sein Entsetzen, wenn er die Wahrheit über die Veranlagung seiner Tochter erfuhr. Na schön, dem musste sie eben ins Auge sehen. Und es galt, die ganze Zukunft neu zu ordnen. Vor ihr lag nicht das sogenannte normale Leben der anderen jungen Mädchen, mit Ehemann und Kindern. Wohin sie sich auch wandte, sie war eine Andersgeartete, eine Rebellin, die die Zwänge der Gesellschaft abgestreift hatte. Und wenn schon! Elizabeth stellte sich in Gedanken ihr gemeinsames Heim in zarten Pastellfarben und mit passenden Requisiten vor. Sie sah erlesene französische Möbel und schöne Gemälde.
Dann überdachte Elizabeth ihr eigenes Aussehen, ihre Garderobe. Mochte sie auch eine Lesbierin sein, so war sie auf jeden Fall entschlossen, sich nicht wie eine solche zu kleiden. Nein, alles andere als das, nur nicht den schrecklichen Tweed, weite Hosen, strenge Schneiderkostüme oder die vulgären Herrenhüte. Waren das nicht geradezu die Glöckchen der Aussätzigen? Nein, sie selbst hatte sich immer für fraulich gehalten, und dabei würde es bleiben.
Und sie beschloss, eine hervorragende Köchin zu werden. Dann konnte sie Mlle. Harriot - oder vielmehr: Chantal - mit Leckerbissen überraschen. Sie sah die Szene schon vor sich: sie beide in ihrem gemütlichen Heim, Abendessen bei Kerzenlicht, das Mahl von ihr selbst zubereitet. Zuerst eine Vorspeise, dann Salat, vielleicht Krabben oder Hummer, dann ein Chateaubriand, und als Nachspeise Eissorbet. Nach dem Essen würden sie auf dem Boden vor dem flackernden Kaminfeuer ihren Mocca trinken, während draußen die Schneeflocken rieselten. Schneeflocken? Also war es Winter. Schnell stellte Elizabeth das Menü um. Vielleicht eine herzhaft duftende Zwiebelsuppe, dann wohl am besten ein Fondue. Zum Dessert ein Souffle. Und nach dem Essen, vor dem Kaminfeuer, lasen sie sich gegenseitig Gedichte vor, T. S. Eliot womöglich oder V. C. Rajadhon.
Die Zeit ist aller Liebe ärgster Feind, der Dieb, der uns die gold’nen Stunden stiehlt.
Drum hab’ ich stets die Torheit laut beklagt dass Liebende ihr Glück allein im Takt der Tage, Nächte, Jahre wähnen.
Wo doch der wahren Liebe einzig Maß sind uns’re Seligkeit, die Seufzer und die Tränen.
O ja, Elizabeth konnte sich das nur zu gut ausmalen, die Jahre ihrer Gemeinsamkeit, und der Lauf der Zeit zerschmolz für sie in einen Strom von Zärtlichkeit und Wärme. Ein Glücksschimmer, der sie in den Schlaf hinübergleiten ließ.
Elizabeth hatte darauf gewartet. Dennoch - als es geschah, traf es sie völlig unvorbereitet. Eines Nachts wachte sie auf. Jemand hatte ihr Zimmer betreten. Elizabeth riss die Augen auf. Ein Schatten bewegte sich durch den Raum, und plötzlich fiel der Mondschein auf Mlle. Harriot. Wie wild fing Elizabeths Herz zu klopfen an.
»Elizabeth...«, hörte sie Chantal flüstern. Und dann stand sie vor ihr, ließ ihren Hausmantel von den Schultern gleiten. Darunter war sie nackt. Elizabeth wurde der Mund trocken. Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt, und nun, da er Wirklichkeit wurde, überfiel sie Panik. Sie war sich nicht einmal sicher, was ihre Rolle jetzt von ihr verlangte, was zu tun war - und wie. Und vor der Frau, die sie liebte, wollte sie sich nicht blamieren.
»Sieh mich an!« Chantals Stimme hatte einen heiseren Unterton. Elizabeth gehorchte. Mit den Augen verschlang sie die nackte Gestalt. Als sie so dastand, erschien sie ihr weit weniger attraktiv. Ghantal Harriot entsprach in ihrer Nacktheit nicht mehr ihrem Traumbild. Ihre Brüste hingen schlaff, der Bauch wölbte sich ein wenig, Hüften und Gesäß waren zu stark ausgebildet.
Doch was zählte das schon? Was unter der Haut lag, darauf kam es an, auf die Seele der Freundin, ihre Kraft und ihren Mut, anders zu sein als die anderen, der Welt die Stirn zu bieten, und, das Wichtigste, ihre Bereitschaft, den Rest ihres Lebens mit Elizabeth zu verbringen.
»Rück mal rüber, mon petit ange«, flüsterte Chantal Harriot.
Elizabeth kam der Aufforderung nach, und die Lehrerin schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie verströmte einen starken Geruch, wie ein brünstiges Wild. Sie schloss die Arme um Elizabeth. »Oh, cherie, wie habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt.« Sie küsste Elizabeth auf den Mund und stöhnte wollüstig.
Die Erfüllung ihrer Träume entpuppte sich für Elizabeth zweifellos als das ekelhafteste Erlebnis, das ihr je zuteil wurde. Verkrampft lag sie da, wie im Schock. Chantals Hände glitten über ihren Körper, streichelten ihre Brüste, fuhren langsam abwärts über Bauch und Schenkel. Dabei hielt sie ständig ihre Lippen auf Elizabeths Mund gepresst.
Mlle. Harriots Hände waren in den unteren Bereichen angekommen, liebkosten Elizabeths Schenkel, tasteten sich zwischen ihre Beine. Verzweifelt versuchte Elizabeth, die schönen Bilder von einst zu beschwören: Diner bei Kerzenschein, das Souffle, die Abende vor dem Kamin und all die langen, herrlichen Jahre, die sie gemeinsam verbringen wollten. Aber es nützte nichts.
Elizabeth fühlte sich angewidert, seelisch wie körperlich. Ihr Fleisch rebellierte, es war, als würde ihrem Leib Gewalt angetan.
Am Tag darauf versuchte Elizabeth es im Bad mit der Brause.