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Rhys sprach über seine Kindheit in Wales, und er stellte seine Erinnerungen wie ein einziges fröhlichbuntes Abenteuer dar. Doch dann schilderte er, warum er von zu Hause weggelaufen war. »Weil in mir der Hunger saß, alles zu sehen und alles zu tun. Ich wollte jeden kopieren, der mir begegnete. Ich war mir eben selbst nicht genug. Können Sie das verstehen?«

O ja, Elizabeth verstand nur zu gut.

»Ich arbeitete auf Rummelplätzen, am Strand, und in einem Sommer hatte ich einen Job, da musste ich Touristen in Coracles den Rhosili runterfahren, und -«

»Moment mal«, unterbrach ihn Elizabeth. »Was bedeutet Rhosili, und was ist ein Coracle?«

»Ach so, der Rhosili ist ein reißender Fluss mit starkem Gefälle, Strudeln und Stromschnellen. Und Coracle nennt man ein altertümliches Kanu aus Weidengeflecht, mit wasserdichten Häuten bespannt. Die gehen zurück bis in vorrömische Zeiten. In Wales sind Sie offenbar nie gewesen, was?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, das wäre was für Sie, Liz. Sie würden sich in meine Heimat verlieben.« Sie wusste, er hatte recht. »Im Vale of Neath gibt es einen Wasserfall, eine der schönsten Sehenswürdigkeiten dieser Welt. Und was es da noch alles gibt: Aber-Eiddi, Caerbwdi und Porthclais und Kilgetty und Llangwm...« Die Namen sprudelten aus ihm heraus wie eine fremde Musik. »Ein wildes, ungezähmtes Land, voller magischer Überraschungen.«

»Und trotzdem haben Sie Wales den Rücken gekehrt.« Rhys lächelte. »Das war der Hunger in mir. Ich wollte die Welt erobern.«

Was er nicht sagte, war: Der gleiche Hunger fraß noch immer in ihm.

Im Verlauf der nächsten drei Jahre machte sich Elizabeth ihrem Vater vollends unentbehrlich. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, ihm das Leben angenehm zu gestalten, damit er sich auf das konzentrieren konnte, was allein für ihn zählte: das Geschäft. Wie sie es bewerkstelligte, blieb ihr überlassen. Sie engagierte das Personal oder entließ es, sie richtete die verschiedenen Häuser und Wohnungen her, ganz wie es den Bedürfnissen ihres Vaters entsprach. Und sie machte für ihn die Honneurs.

Vor allem aber wurde sie zu seinen Augen und Ohren. Nach einer Konferenz pflegte Sam seine Tochter um ihr Urteil über einen Gesprächspartner zu bitten, oder er erläuterte ihr, warum er gerade so und nicht anders gehandelt hatte. Sie sah zu, wie er Entscheidungen traf, die das Leben Tausender von Menschen beeinflussten und Hunderte von Millionen Dollar bewegten. Sie war anwesend, wenn Staatsoberhäupter ihrem Vater nahelegten, eine Fabrik zu bauen, oder ihn baten, von einer Schließung abzusehen.

Nach einer dieser Konferenzen konnte Elizabeth nicht mehr an sich halten. »Es ist unglaublich. Mir kommt es vor, als ob du ein Land regierst.«

Ihr Vater lachte. »Roffe und Söhne haben ein größeres Einkommen als drei Viertel der Staaten dieser Erde.«

Auf ihren Reisen mit Sam lernte Elizabeth die anderen Mitglieder der Familie Roffe besser kennen, ihre Kusinen und Vettern, deren Männer oder Frauen.

Als junges Mädchen war sie ihnen gelegentlich in den Ferien begegnet, wenn der eine oder andere in eines der Häuser ihres Vaters zu Besuch kam oder sie selbst einen kurzen Gegenbesuch abstattete.

Am meisten Spaß hatte es ihr immer bei Simonetta und Ivo Palazzi in Rom gemacht. Die beiden waren freundlich und ungekünstelt, und Ivo hatte Elizabeth schon immer als Frau behandelt. Er leitete den italienischen Zweig des Unternehmens, und er tat dies ganz ausgezeichnet. Man hatte gern mit Ivo Palazzi zu tun - Elizabeth erinnerte sich an das Urteil einer Schulfreundin, die ihm begegnet war. »Weißt du, was ich an ihm mag? Er hat Herz und Charme.«

Herz und Charme, ja, das traf auf Ivo zu.

Dann Helene Roffe-Martel und ihr Mann Charles in Paris. Elizabeth war aus Helene nie so recht klug und auch nicht warm mit ihr geworden. Zwar war diese ihr immer zuvorkommend begegnet, doch Elizabeth hatte nie die Mauer kühler Reserve durchdringen können, mit der Helene sich umgab. Charles war Chef des französischen Zweigs der Firma. Er war kompetent, aber aus Bemerkungen ihres Vaters schloss Elizabeth, dass es ihm an Energie und Elan fehlte. Er konnte zwar Anordnungen befolgen, zeigte selbst aber keine Initiative. Sam hatte ihn nie durch jemand anderen ersetzt, denn die französische Niederlassung entwickelte sich hervorragend. Nach Elizabeths Mutmaßungen trug Helene heimlich den entscheidenden Anteil am Erfolg.

Ihre deutsche Kusine, Anna Roffe-Gassner, und deren Mann Walther mochte Elizabeth gern. Sie erinnerte sich an Familienklatsch, wonach Anna unter ihrem Stand geheiratet hatte. Walther Gassner, so hieß es, war das schwarze Schaf der Familie, ein Glücksritter, der sich eine unansehnliche ältere Frau um ihres Geldes willen geangelt hatte. Elizabeth allerdings hielt ihre Kusine nicht für hässlich. Anna war ein scheues, sensibles Wesen, in sich zurückgezogen und nicht frei von Lebensangst. Walther wiederum hatte sie auf den ersten Blick gemocht. Er hatte das klassische Aussehen eines Filmhelden, war aber weder arrogant noch oberflächlich. Außerdem schien er Anna in aufrichtiger Liebe verbunden zu sein, und Elizabeth dachte nicht daran, den schrecklichen Geschichten über ihn Glauben zu schenken.

Doch von all ihren Vettern und Kusinen war Alec Nichols ihr der liebste. Seine Mutter, eine Roffe, hatte Sir George Nichols geheiratet, den dritten Baronet seines Stammes. Alec war es, an den sich Elizabeth stets wandte, wenn sie ein Problem hatte. Vielleicht lag es an Alecs ausgeprägter Sensibilität und seinem sanften Wesen, dass Elizabeth als Kind in ihm noch am ehesten eine Vertrauensperson fand, und nun wurde ihr bewusst, welch großes Kompliment sie Alec damit gezollt hatte. Er hatte sie immer als Gleichgestellte behandelt, war stets hilfsbereit gewesen. Elizabeth erinnerte sich, wie sie einmal, in einem Augenblick tiefster Verzweiflung, den Entschluss zum Durchbrennen gefasst hatte. Ihr Koffer war bereits gepackt, und dann, getrieben von einem plötzlichen Impuls, hatte sie Alec in London angerufen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Alec war mitten in einer Konferenz gewesen, aber er eilte sofort ans Telefon und redete über eine Stunde lang mit ihr. Und als er aufgelegt hatte, entschloss sich Elizabeth, ihrem Vater zu verzeihen und ihm eine letzte Chance zu geben. Derart war ihre Verbindung zu Sir Alec Nichols. Zu seiner Frau Vivian stand sie ganz anders. War Alec großzügig und rücksichtsvoll, so erschien Vivian ihr selbstsüchtig und oberflächlich. Sie war die egoistischste Frau, der Elizabeth jemals begegnet war.

Jahre zuvor, als Elizabeth ein Wochenende bei den Nichols auf deren Landsitz in Gloucestershire verbrachte, hatte sie sich allein zu einem Picknick aufgemacht. Doch es fing zu regnen an, und Elizabeth kehrte früher als erwartet zurück. Sie kam durch die Gartentür, und als sie die Halle durchqueren wollte, hörte sie laute Stimmen aus dem Arbeitszimmer, wurde Zeugin eines Streits.

»Ich hab’ die Nase voll vom Kindermädchenspielen.« Das war Vivians Stimme. »Du kannst dir deine süße kleine Kusine unter den Arm klemmen und sie heute abend allein unterhalten. Ich fahre nach London, hab’ eine Verabredung.«

»Aber Viv, die kannst du doch absagen. Das Kind bleibt nur noch einen Tag bei uns, und -«

»Tut mir leid, Alec, kommt nicht in Frage. Ich hab’ Lust auf ‘nen guten Fick, und heute abend verschaff ich ihn mir, da kannst du Gift drauf nehmen.«

»Vivian, bitte, um Gottes willen!«

»Ach, Mann, steck ihn dir doch in den Arsch. Versuch nicht dauernd, mich zu kommandieren.«

Im selben Augenblick, ehe Elizabeth sich von der Stelle bewegen konnte, kam Vivian aus dem Zimmer gestürmt. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Elizabeths vor Entsetzen versteinertes Gesicht und rief ihr fröhlich zu: »Schon wieder da, Baby?« Und damit verschwand sie in die oberen Gemächer.

In der Tür zum Arbeitszimmer stand Alec. Er sagte ganz sanft: »Komm herein, Elizabeth.«