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Zwei Stunden später schwebte Rhys Williams in einem Konzern-Jet über dem Mittelmeer, Kurs New York.

2. Kapitel

Berlin

Montag, 7. September, 10 Uhr

Anna Roffe-Gassner wusste: Sie durfte nicht noch einmal schreien. Wenn sie das tat, käme Walther zurück. Und er würde sie umbringen. Hilflos kauerte sie in einem Winkel ihres Schlafzimmers, unfähig, ihren zitternden Leib unter Kontrolle zu bringen, in Todesangst. Die Reise war zu Ende. Was als wunderbares Märchen begonnen hatte, endete im Schrecken, in einem Meer unbeschreiblichen Entsetzens. Sie hatte lange gebraucht, um der Wahrheit ins Auge zu sehen: Der Mann, den sie geheiratet hatte, war ein Irrer, ein wahnsinniger Mörder.

Ehe sie Walther Gassner begegnete, hatte Anna keinen Menschen auf Erden geliebt, auch nicht ihre Mutter, ihren Vater oder gar sich selbst. Anna, ein schwaches, kränkliches Kind, hatte von früh an unter Ohnmachtsanfällen gelitten. Solange sie sich zurückerinnern konnte, gab es in ihrer Kindheit keine Perioden ohne Kliniken, Pflegerinnen oder Spezialisten, die aus den entferntesten Gegenden eingeflogen worden waren. Ihr Vater war Anton Roffe, von Roffe und Söhne, und deshalb stand es außer Frage, dass die berühmtesten Ärzte der Welt an Annas Krankenbett in Berlin eilten. Doch wenn sie nach all den aufwendigen Untersuchungen und Tests wieder verschwanden, waren sie so schlau wie zuvor. Es gab niemanden, der Annas Zustand diagnostizieren konnte.

Anna war nicht in der Lage, wie andere Kinder eine Schule zu besuchen, und mit der Zeit zog sie sich ganz in sich zurück, schuf sich ihre eigene Welt, mit ihren Träumen und Phantasiegebilden. Sie malte sich ihr eigenes Bild vom Leben, weil die Farben der Realität zu grell für sie waren. Als sie achtzehn war, verschwanden die Anfälle von Schwindelgefühl und Ohnmacht genauso plötzlich, wie sie aufgetreten waren. In einem Alter, da die meisten Mädchen sich verlobten oder heirateten, war Anna noch ungeküsst. Das machte ihr überhaupt nichts aus, versicherte sie sich immer wieder. Sie war es zufrieden, ihr Traumleben zu leben, abgesondert von allem und jedem. Sie war Mitte Zwanzig, als sich die Freier meldeten. Anna Roffe war eine Erbin, die einen der berühmtesten Namen der Welt trug, und eine Vielzahl von Männern war nur allzu begierig, ihr Vermögen mit ihr zu teilen. Sie bekam Anträge von einem schwedischen Grafen, einem italienischen Poeten und einem halben Dutzend mittelloser Prinzen. Anna wies alle ab. An ihrem dreißigsten Geburtstag überkam Anton Roffe der Jammer. »Mein Schicksal ist es, ohne Enkel zu sterben.«

An ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag reiste Anna nach Österreich, und in Kitzbühel begegnete sie Walther Gassner, einem Skilehrer, dreizehn Jahre jünger als sie.

Als sie Walther das erste Mal sah, stockte ihr bei seinem Anblick buchstäblich der Atem. Er glitt auf Skiern die steile Abfahrt des Hahnenkamms hinunter, und das war das schönste Bild, das Anna in ihrem Leben je gesehen hatte. Sie ging näher auf das Streckenziel zu, um ihn besser betrachten zu können. Er war wie ein junger Gott, und Anna wollte gar nicht mehr als ihn nur anschauen. Schon das war ein großes Erlebnis. Er ertappte sie, wie sie ihn anstarrte.

»Laufen Sie nicht Ski, gnädiges Fräulein?«

Sie schüttelte nur den Kopf, da ihre Stimme versagte.

Lachend fügte er hinzu: »Dann darf ich Sie vielleicht zum Mittagessen einladen?«

Anna nahm Reißaus, voller Panik, wie ein Schulmädchen. Von nun an wich ihr Walther Gassner nicht mehr von der Seite. Sie machte sich nichts vor. Sie wusste, sie war weder schön noch geistreich. Sie war ganz einfach eine recht unansehnliche Frau und hatte, mit Ausnahme ihres Namens, einem Mann wenig zu bieten. Schließlich konnte nur sie selbst wissen, dass unter dem unauffälligen Äußeren sich ein wunderschönes, gefühlvolles Mädchen verbarg. Ein Mädchen voller Liebe, Poesie und Melodie.

Vielleicht hatte Anna gerade, weil sie nicht schön war, eine tiefe Ehrfurcht vor allem Schönen. In den Museen betrachtete sie stundenlang die Gemälde und Statuen. Nachdem sie Walther Gassner begegnet war, wähnte sie, alle Götter seien zum Leben erwacht, speziell für sie.

Am zweiten Tag frühstückte Anna auf der Terrasse des Hotels Tennerhof, als Walther Gassner bei ihr auftauchte. Er sah aus wie Apoll. Ein gleichmäßig schön geschnittenes Profil gesellte sich zu feinen, ausgeprägten Zügen, stark und sensibel zugleich. Er war tief gebräunt, die Zähne leuchteten weiß und ebenmäßig. Er hatte blondes Haar und graue Augen. Der Ski-Anzug verbarg kaum seine starken Muskeln, und Anna spürte ein Beben. Sie verbarg die Hände im Schoß, damit er ihre Unruhe nicht bemerkte.

»Gestern nachmittag hab’ ich Sie vergeblich am Hang gesucht«, sagte Walther. Anna brachte kein Wort heraus. »Wenn Sie nicht Ski laufen können, würde ich es Ihnen gern beibringen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Kostenlos, versteht sich.«

Er hatte sie zum Hausberg begleitet, dem Hang für Anfänger, und ihre erste Skistunde begann. Beiden war sofort klar, dass Anna keinerlei Talent fürs Skilaufen besaß. Immer wieder verlor sie die Balance und fiel in den Schnee, aber sie bestand darauf, es stets aufs neue zu versuchen, weil sie fürchtete, Walther könnte sie für ihr Versagen mit Verachtung strafen. Doch statt dessen hob er sie nach dem zehnten Sturz fürsorglich auf und sagte sanft:

»Ihnen ist Besseres bestimmt als das hier.«

»Besseres? Was meinen Sie denn?« Annas Stimme klang ängstlich.

»Das werde ich Ihnen heute abend erzählen, beim Diner.«

Und sie aßen zusammen, an diesem Abend, am nächsten Morgen und wieder zur Mittagszeit. Walther kümmerte sich nicht länger um seine Schüler. Er vergaß seine Skistunden, um mit Anna durch das Dorf zu bummeln. Er führte sie ins Spielkasino »Goldener Greif«, sie machten Schlittenfahrten, kauften ein, unternahmen Wanderungen. Stunde um Stunde saßen sie auf der Hotelterrasse, redeten und redeten. Für Anna hatte das Leben einen magischen Zauber bekommen.

Fünf Tage nach ihrer ersten Begegnung nahm Walther ihre beiden Hände in die seinen. »Anna, Liebling, lass uns heiraten.«

Mit einem Satz hatte er alles verdorben. Er hatte sie aus der Märchenwelt gerissen und in die grausame Wirklichkeit zurückversetzt, in die Realität ihres Namens und ihrer Person: einer fünfunddreißig-jährigen alten Jungfer, Jagdtrophäe für Glücksritter.

Sie hatte weglaufen wollen, aber Walther hielt sie zurück. »Wir lieben uns doch, Anna, davor kannst du die Augen nicht verschließen.«

Und sie hörte seine Lügen an, hörte ihn sagen: »Ich habe bis jetzt noch niemanden geliebt.« Und sie machte es ihm leicht, weil sie so verzweifelt darauf aus war, ihm zu glauben. Sie nahm ihn mit auf ihr Zimmer, und dort saßen sie und redeten, und als Walther ihr die Geschichte seines Lebens erzählte, fing sie tatsächlich an, ihm zu glauben; es war eine so wunderbare Fügung, denn sie merkte: Das ist ja in Wirklichkeit auch meine Geschichte, mein Leben.

Wie sie selbst hatte Walther nie einen Menschen gehabt, dem er seine Liebe schenken konnte. Von Geburt an war er als Bastard gebrandmarkt, von der Welt ausgestoßen. Ebenso wie Anna durch ihre Krankheit von allem ausgeschlossen war. Und wie sie hatte Walther in sich stets den übermächtigen Drang verspürt, jemanden zu lieben. Er wuchs in einem Waisenhaus auf, und als bereits mit dreizehn seine männliche Schönheit zu erkennen war, hatten die Frauen im Waisenhaus angefangen, sich seiner zu bedienen. Sie holten ihn nachts in ihre Kammern, nahmen ihn mit ins Bett, brachten ihm bei, ihnen Entzücken zu spenden. Und zur Belohnung steckten sie dem Knaben Extraportionen zu, fütterten ihn mit Fleischbrocken und Süßigkeiten. Alles gaben sie ihm, außer Liebe.