»Warum heißt das >Hundert-Millionen-Dollar-Krypta<?« erkundigte sich Elizabeth.
»Weil das, was Sie hier sehen, soviel gekostet hat. Schauen Sie sich doch bloß mal die Sachen auf den Regalen an. Keines dieser Produkte trägt einen Namen; es gibt nur Nummern. Das sind unsere Versager, wenn Sie so wollen. Pharmazeutische Erzeugnisse, die nicht verkäuflich waren.«
»Aber hundert Millionen -«
»Auf jedes neue Heilmittel, das beim Verbraucher ankommt, entfallen ungefähr tausend Versuchsballons. An manchen Mitteln wird bis zu zehn Jahren gearbeitet, bevor man es auf den Markt bringt. Ein einziges Medikament kann fünf, ja sogar zehn Millionen Dollar für Forschung und Erprobung verschlingen, bis wir feststellen, ob die Produktion einen Sinn hat oder ob vielleicht sogar jemand anders uns zuvorgekommen ist. Wir werfen grundsätzlich nichts weg. Ab und an kommt einer unserer jungen Genies auf die Idee, ein längst vergessenes Produkt aus dem Bau hier hervorzukramen, er entwickelt es weiter und entdeckt plötzlich eine Goldmine.«
Dennoch ließ der hohe Betrag Elizabeth erschauern. »Kommen Sie«, mahnte Rhys. »Jetzt zeige ich Ihnen den >Verlust-Bunker<.«
Das war wieder ein anderes Gebäude, diesmal unbewacht. Auch dort waren nur Gestelle mit Flaschen, Töpfen und Tuben zu sehen.
»Hier geht uns ebenfalls ein Vermögen durch die Lappen«, sagte Rhys. »Allerdings ist das so beabsichtigt.«
»Das versteh’ ich nicht«, warf Elizabeth ein.
Rhys ging an ein Regal und nahm eine Flasche in die Hand. Auf dem Etikett stand: Botulismus. »Wissen Sie, wie viele Fälle von Fleischvergiftung im letzten Jahr in den Vereinigten Staaten aufgetreten sind? Ganze fünfundzwanzig. Uns aber kostet es Millionen von Dollar, um dieses Gegenmittel in Produktion zu halten.« Wahllos griff er einen anderen Behälter heraus. »Das ist ein Mittel gegen Tollwut. Der ganze Raum hier ist voller Medikamente gegen selten auftretende Krankheiten, Schlangenbisse, giftige Pflanzen und ähnliches. Wir liefern sie kostenlos an die Streitkräfte, Krankenhäuser und an staatliche Institutionen.«
»Das gefällt mir«, fiel Elizabeth ein. Dem alten Samuel hätte es gleichfalls gefallen, dachte sie.
Rhys führte Elizabeth in einen anderen Raum. Leere Flaschen wurden auf einem riesigen Fließband transportiert. Ehe sie den Raum am anderen Ende wieder verließen, waren alle sterilisiert, mit Kapseln gefüllt, etikettiert, am Hals mit Watte abgedichtet und verschlossen worden, und das völlig automatisch.
Ferner gab es eine Glasbläserei, ein Architekturbüro für die Planung neuer Bauten und eine Liegenschaftsabteilung für die notwendige Grund-und-Boden-Beschaffung. In einem Haus waren Dutzende von Textern mit Werbebroschüren beschäftigt, die in fünfzig verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden; in einem anderen befanden sich die dafür notwendigen Druckmaschinen.
Einige Abteilungen ließen Elizabeth an George Orwells »1984« denken. Die sterilen Sääle waren in geisterhaftes Ultraviolett-Licht getaucht, die Nebenräume verschiedenfarbig angemalt: weiß, grün, blau, und die dort Beschäftigten trugen jeweils farblich abgestimmte Kittel. Wenn einer den Raum verließ oder betrat, musste er jedes Mal eine Sterilisationsschleuse passieren. Die Blauen waren den ganzen Tag über eingeschlossen. Wenn sie essen gehen, sich ausruhen oder zur Toilette wollten, mussten sie sich entkleiden, eine neutrale grüne Zone passieren und andere Kleidung anlegen. Auf dem Rückweg war es dann umgekehrt.
»Hier ist noch etwas, das Sie bestimmt interessieren wird«, sagte Rhys. Sie gingen einen grauen Korridor in einem Forschungsgebäude entlang und kamen an eine Tür mit der Warnung: Eintritt verboten. Rhys stieß sie auf, und sie traten ein. Sie kamen durch eine zweite Tür, und dann fand Elizabeth sich in einem schwach beleuchteten Raum, der Hunderte von Käfigen mit den verschiedensten Tieren beherbergte. Es war heiß und unangenehm feucht, und Elizabeth meinte, plötzlich in einen Dschungel versetzt zu sein. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, konnte sie Affen, Hamster, Katzen und weiße Mäuse erkennen. Viele der Tiere waren von obszön anmutenden Geschwüren an den verschiedensten Körperteilen befallen. Einige hatten rasierte Köpfe und trugen Kronen aus Elektroden, die ihnen ins Hirn gepflanzt worden waren. Manche Tiere kreischten und winselten, rasten wie verrückt in ihren Käfigen umher, andere lagen wie im Koma oder lethargisch da. Der Krach und der Gestank waren unerträglich. Elizabeth trat an einen Käfig heran, in dem sich ein einzelnes weißes Kätzchen befand. Das Gehirn des Jungtiers war offengelegt; statt der Schädeldecke hatte es auf dem Kopf nur eine durchsichtige Plastikhülle, durchbohrt von einem halben Dutzend Drähten.
»Was - was geschieht denn hier?« Elizabeth war entsetzt.
Ein hochgewachsener, bärtiger junger Mann, der vor einem Käfig stand und sich Notizen machte, antwortete ihr. »Wir testen hier ein neues Beruhigungsmittel.«
»Hoffentlich wirkt es«, brachte Elizabeth heraus. »Schätze, genau das könnte ich jetzt gebrauchen.« Ehe ihr vollends schlecht wurde, verließ sie fluchtartig den Raum.
Im Flur holte Rhys sie ein. »Sind Sie okay?«
Sie holte tief Luft. »Ja, es geht mir besser. Sind diese Experimente wirklich nötig?«
Rhys sah sie an. »Diese Versuche retten unzähligen Menschen das Leben. Mehr als ein Drittel aller Menschen, die nach 1950 geboren wurden, verdanken der modernen Pharmakologie ihr Leben. Das müssen Sie sich einmal vorstellen.«
Elizabeth versuchte es.
Allein für die Besichtigung der wichtigsten Gebäude und Anlagen benötigte sie sechs volle Tage. Danach war sie völlig fertig und meinte, der Kopf müsste ihr platzen. Und bei alledem wusste sie: Das war nur eine der Roffe-Niederlassungen. Es gab noch Dutzende anderer rund um den Globus.
Fakten und Zahlen waren imponierend. »Man braucht mindestens fünf bis zehn Jahre, um ein neues Mittel zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, und von jeweils zweitausend getesteten bleiben im Durchschnitt nur drei übrig«, hatte man ihr erklärt.
Und: »Bei Roffe und Söhne sind allein dreihundert Menschen mit der Qualitätskontrolle beschäftigt.«
Und: »Weltweit arbeiten bei Roffe und Söhne über eine halbe Million Angestellte.«
Und: »Unser Gesamtumsatz betrug im letzten Jahr...«
Elizabeth hatte aufmerksam zugehört, hatte versucht, die unvorstellbaren Zahlen zu verdauen, mit denen Rhys sie fütterte. Sie hatte gewusst, dass der Konzern groß war, aber dieses »groß« war ihr immer als anonymer Begriff erschienen. Nun wurde das Wort in Menschen und Geld umgesetzt, und das Ergebnis war überwältigend.
In dieser Nacht nach dem sechsten Tag, als Elizabeth schlaflos im Bett lag und alles noch einmal durchdachte, überkam sie das Gefühl hilfloser Unzulänglichkeit.
Ivo: »Glaube mir, cara, du überlässt das alles am besten uns. Von diesen Dingen verstehst du nichts.«
Alec: »Ich fürchte, ich bin auch dafür, altes Mädchen.«
Walther: »Warum willst du dir unnötige Mühe machen? Du kannst gehen, wohin du willst, und das Leben in vollen Zügen genießen.«
Und sie hatten recht. Alle hatten recht. Davon war Elizabeth jetzt überzeugt. Ich verschwinde, beschloss sie. Und die können mit dem Konzern machen, was sie wollen. Ich gehöre einfach nicht hierher, nicht in diese Position.
Da sie nun den Entschluss gefasst hatte, überfiel sie unendliche Erleichterung. Und auf der Stelle schlief sie ein.
Am nächsten Tag, einem Freitag, stand ein verlängertes Feiertagswochenende bevor. Sobald Elizabeth im Büro war, ließ sie nach Rhys schicken, um ihm ihren Entschluss mitzuteilen.
»Mr. Williams musste gestern abend plötzlich nach Nairobi fliegen«, informierte Kate Erling sie. »Er ist Dienstag zurück, soll ich Ihnen ausrichten. Kann Ihnen sonst jemand behilflich sein?«