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Plötzlich fühlte sie sich sehr allein in der Villa. Verschreckt zuckte sie zusammen, als das Telefon klingelte. Sie ging zum Apparat und nahm ab. »Hallo?«

»Liz? Rhys hier. Ich habe gerade Ihre Nachricht erhalten.«

Sie war froh, seine Stimme zu hören. Dann fiel ihr ein, warum sie versucht hatte, ihn zu erreichen. Um ihm mitzuteilen, dass sie bereit wäre, die Verkaufsdokumente zu unterschreiben und das Familienunternehmen aufzulösen. Doch in wenigen Stunden hatte sich die Situation völlig verändert. Elizabeth sah durch die offene Tür in die Halle auf das Bild des alten Samuel. Er hatte dieses Unternehmen gegründet und dafür gekämpft. Elizabeths Vater hatte den Konzern ausgebaut, hatte ihn zu einem weltumspannenden Unternehmen gemacht. Und er hatte nur für ihn gelebt, sich ihm völlig verschrieben.

»Rhys«, sagte Elizabeth ins Telefon. »Ich möchte eine Direktoriumssitzung einberufen. Für Dienstag, zwei Uhr. Würden Sie bitte alle benachrichtigen?«

»Dienstag, zwei Uhr«, wiederholte Rhys. »Gibt’s sonst noch etwas?«

Sie zögerte. Dann: »Nein, das ist alles. Vielen Dank.«

Langsam legte sie auf. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde kämpfen - wenn nötig, gegen alle.

Sie befand sich hoch auf dem Berg, zusammen mit ihrem Vater, kletterte an seiner Seite. Sieh nicht nach unten, sagte Sam immer wieder, aber Elizabeth tat es doch, und unter ihr war nichts als viele tausend Meter Leere. Sie hörte einen lauten Donnerschlag, sah einen grellen Blitz. Er traf Sams Seil und steckte es in Brand, und Sam wirbelte hilflos im freien Raum. Elizabeth sah seinen Körper, wie er sich drehte und drehte. Sie fing zu schreien an, aber ihre Schreie wurden vom Tosen des Donners verschluckt.

Plötzlich wachte sie auf. Ihr Herz hämmerte wild; das Nachthemd war durchgeschwitzt. Wieder war krachender Donner zu hören. Sie sah zum Fenster hinaus und bemerkte, dass es in Strömen goss. Durch die offene Balkontür peitschte der Wind den Regen ins Zimmer. Schnell stand sie auf und drückte die Türflügel fest zu. Durch die Scheibe sah sie auf die Sturmwolken, die am Himmel trieben, auf die zuckenden Blitze am Horizont. Aber sie nahm sie nicht wahr.

Ihre Gedanken waren bei ihrem Traum.

Am Morgen war der Sturm weitergezogen. Es nieselte nur noch leicht. Elizabeth hoffte, dass sich Alecs Ankunft durch das Unwetter nicht verzögerte. Nachdem sie den Bericht gelesen hatte, brauchte sie dringend jemanden, mit dem sie reden konnte. Einstweilen, dachte sie, wäre es bestimmt besser, das Dokument an einem sicheren Platz aufzubewahren. Oben im Turmzimmer war ein Safe. Dort konnte sie es einschließen. Elizabeth badete, zog lange Hosen und einen Pullover an und ging nach unten in die Bibliothek, um den Bericht zu holen. Er war verschwunden.

19. Kapitel

Das Zimmer sah aus, als wäre es einem Hurrikan zum Opfer gefallen. Der Sturm hatte über Nacht die Verandatüren aufgestoßen, Wind und Regen waren als Verbündete am Werk gewesen. Alles lag wild verstreut. Auf dem nassen Teppich fand Elizabeth ein paar lose Blätter des Berichts, aber der Rest war offenbar durch die Tür davongeweht, buchstäblich in alle Winde.

Elizabeth betrat die Veranda und sah hinaus. Auch auf dem Rasen konnte sie die Papiere nicht entdecken, wahrscheinlich hatte der Sturm seine Beute über das Kliff gefegt. Ja, dachte Elizabeth, so musste es gewesen sein.

Keine Kopien. Sie musste den Namen der von Sam beauftragten Detektei herausfinden. Möglicherweise wusste Kate Erling Bescheid. Aber Elizabeth konnte nicht sicher sein, ob Sam ihr das anvertraut hatte. Das Ganze war zu einem makabren Spiel geworden, bei dem jeder jeden verdächtigte. Elizabeth wusste nur eins: Sie musste ungeheuer vorsichtig ans Werk gehen.

Plötzlich fiel ihr ein, dass es im Haus keine Lebensmittel gab. Noch konnte sie nach Cala di Volpe zum Einkaufen fahren und rechtzeitig vor Alecs Ankunft zurück sein. Aus dem Dielenschrank holte sie einen Regenmantel und ein Tuch fürs Haar. In der Küche nahm sie den Jeepschlüssel vom Brett und ging zur Garage.

Sie startete den Motor und setzte den Jeep vorsichtig rückwärts ins Freie. Dann wendete sie und fuhr über die Privatauffahrt davon. Schon nach wenigen Metern bremste sie ab; der Weg war durch die Nässe glitschig. Am Tor bog sie rechts in die schmale Bergstraße ein, die nach Cala di Volpe führte, in das kleine Dorf tief unten am Fuß des Berges. Um diese Stunde war kein Verkehr auf der Straße, viel war hier ohnehin nie los, denn so weit oben standen nur wenige Häuser. Elizabeth blickte linker Hand nach unten. Das Meer sah fast schwarz aus, aufgepeitscht vom nächtlichen Sturm.

Sie fuhr sehr langsam. Dieser Teil der Straße war tückisch. Die beiden engen Fahrspuren waren in den Fels geschlagen worden, parallel zu den senkrecht abfallenden Klippen. Auf der Innenseite ragte solides Gestein auf, außen ein schroffes Gefalle von weit über hundert Metern bis zum Meeresspiegel. Elizabeth hielt sich, so gut es ging, auf der Innenspur und bremste ständig, um die Geschwindigkeit auf der steilen Straße zu drosseln.

Der Jeep näherte sich einer scharfen Kurve. Automatisch trat Elizabeth das Bremspedal herunter.

Ihr Fuß fand keinen Widerstand. Die Bremse funktionierte nicht.

Sekunden vergingen, bevor Elizabeth die Wahrheit dämmerte. Sie trat noch einmal das Pedal durch, dann noch maclass="underline" Nicht die geringste Wirkung. Elizabeths Herz fing wild zu hämmern an, als der Jeep immer schneller und schneller wurde, erst in der Kurve, dann die steile Bergstraße hinab - die Geschwindigkeit nahm stetig zu. Noch einmal versuchte Elizabeth zu bremsen. Vergeblich.

Vor ihr lag wieder eine Kurve. Elizabeth hatte Angst, den Blick von der Straße zu wenden und auf den Tachometer zu schauen. Aber aus den Augenwinkeln sah sie die Nadel immer höher klettern. Angst griff ihr mit eisigen Händen an die Kehle. Schlingernd kam der Jeep um die Kurve: viel zu schnell! Die Hinterräder rutschten gefährlich dicht an die Kliffkante, gerade noch rechtzeitig fand das Reifenprofil wieder Halt auf der Straße, und der Jeep machte einen Satz nach vorn, stürzte sich wie ein wütender Stier die steil abfallende Strecke hinunter. Jetzt gab es nichts mehr, was den Wagen zum Halten bringen konnte, keine Barrieren oder sonstige Hindernisse. Vor ihr lag nur freie Strecke für die Sturzfahrt, warteten die todbringenden Kurven.

Elizabeths Gedanken rasten, suchten einen Ausweg. Sie dachte daran abzuspringen. Ein schneller Blick auf den Tacho zeigte: Mehr als hundertzehn Kilometer pro Stunde, und immer noch steigerte sich die Geschwindigkeit - ein rasender Todestrip am Abgrund entlang. Sie wusste, das war das Ende. Sie würde sterben, jetzt gleich. Und blitzschnell kam ihr die Erkenntnis: Das war Mord. Und auch ihr Vater war ermordet worden. Sam hatte den Bericht gelesen und musste sterben. Genauso, wie man sie umbrachte. Und sie hatte keine Ahnung, wer der Mörder war, wer sie so tief hasste, um ihnen beiden, Sam und ihr, Leid anzutun. Sie hätte ihr Schicksal leichter ertragen, wenn ihr Mörder ein Fremder gewesen wäre. Aber sie kannte ihren Mörder, und der Mörder kannte sie. Blitzartig zogen Gesichter an ihrem inneren Auge vorbei. Alec... Ivo... Walther... Charles. einer von ihnen musste es sein. Jemand auf höchster Konzernebene.

Ihr Tod würde als Unfall in die Akten eingehen, genau wie der von Sam. Elizabeth weinte jetzt, ein stilles Weinen; ihre Tränen mischten sich mit dem feinen Regen, und sie war sich dessen nicht einmal bewusst. Nun fing der Jeep auf der nassen Straße zu schlingern an, geriet zunehmend außer Kontrolle. Elizabeth kämpfte mit dem Lenkrad. Sie wusste, es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie über die Kliffkante schoss und ins ewige Dunkel abstürzte. Ihr Körper hatte sich verkrampft, die Hände waren taub vom Umklammern des Lenkrades. Im ganzen Universum gab es jetzt nur noch sie, auf der Sturzfahrt in den Abgrund, mit dem röhrenden Wind, der an ihr zerrte und ihr in die Ohren flüsterte: Komm her zu mir! Der Wind, der am Wagen rüttelte, versuchte, ihn über die Klippe zu stoßen. Abermals begann der Jeep zu schlingern, wieder kämpfte    Elizabeth verzweifelt dagegen an. Alte Fahrschulweisheiten drängten sich ihr auf:    Nicht gegensteuern... Und die Hinterräder fassten wieder Spur... Aber der Jeep raste weiter abwärts auf seiner Höllenfahrt. Wieder wagte sie einen Blick auf den Tachometer: Hundertsechzig! Sie wurde einer spitzen Haarnadelkurve entgegengeschleudert. Direkt vor ihr, das wusste sie, lag das Nichts, da kam niemand heil durch.